Herne. Vor zehn Jahren flüchtete Lina Atfah aus Syrien. Warum die Hernerin auf ein fantastisches Jahr zurückblicken kann, welche Pläne sie nun hat.
Eine Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse, die Geburt von Zwillingen, der Sieg beim Literaturpreis Ruhr, ein Stipendium, eine persönliche Einladung von Oberbürgermeister Frank Dudda ins Rathaus, eine Lesereise in Südamerika ....: Die Herner Autorin Lina Atfah blickt im Gespräch mit der WAZ auf ein fantastisches und unglaubliches Jahr zurück. Ein Jahr, in dem sie allerdings zunächst mehrere Monate ans Bett gefesselt im Krankenhaus verbringen musste.
„Ich hatte Panikattacken und große Angst, dass ich erneut meine Babys verlieren werde“, beschreibt Lina Atfah ihre Gefühle zu Beginn des vergangenen Jahres. Sie sei schon einmal mit Zwillingen schwanger gewesen. Nach sechs Monaten seien diese zur Welt gekommen, hätten aber nur eine Stunde in ihren Armen überlebt, sagt sie. Nach Komplikationen in der Schwangerschaft verbrachte sie auf Anraten der Ärzte Anfang 2023 drei Monate liegend in einem Dattelner Krankenhaus, bis sie Anfang April Nay und Yan in der 36. Woche gebar.
Klinik-Team gab Lina Atfah Zuversicht und Kraft
„Das war eine sehr schwierige Zeit“, sagt Lina Atfah. Sie habe starke Schmerzen und große Sorge um die Gesundheit ihrer Babys gehabt. Das Klinik-Team habe ihr viel Zuversicht und Kraft gegeben. Hoffnung und Zuversicht habe ihr aber auch die Jury der Leipziger Buchmesse vermittelt. Diese hatte den von Brigitte Oleschinski und ihrem Ehemann Osman Yousufi – er ist Physiklehrer an einer Bochumer Gesamtschule – vom Arabischen ins Deutsche übertragenen Lyrik-Band „Grabtuch aus Schmetterlingen“ in der Rubrik „Übersetzung“ nominiert. Das sei sehr überraschend gewesen, weil Romane in der Regel viel größere Chancen hätten als Gedichte, so Atfah.
Eigentlich sei sie ganz froh gewesen, dass sie Ende April an der Buchmesse und der Preisverleihung wegen der Geburt ihrer Zwillinge nicht persönlich habe teilnehmen können. „Man muss in so einer Situation die Nerven behalten. Ich wäre wohl in Tränen ausgebrochen, weil wir den Preis nicht gewonnen haben.“ Die live auf YouTube übertragene Zeremonie zur Bekanntgabe der Gewinner habe sie aufgrund des schlechten Internet-Empfangs im Krankenhaus nicht verfolgen können. Ihr Ehemann („er kann seine Gefühle besser beherrschen“) habe sie anschließend aus Leipzig angerufen, um sie über den Ausgang zu informieren.
Am 14. September brach Lina Atfah dann doch noch bei einer Preisverleihung in Tränen aus – vor Freude. Die gebürtige Syrerin, die 2014 vor der Verfolgung des Assad-Regimes nach Deutschland geflohen war, und ihre Übersetzer erhielten in der Essener Kreuzeskirche den renommierten Literaturpreis Ruhr. „Jetzt bin ich Deutsche“, sagte sie direkt nach der Preisverleihung, obwohl sie erst 2025 nach seeeehr langer Wartezeit einen Einbürgerungstermin haben wird. Sie fühle sich als deutsche Schriftstellerin, die auf Arabisch schreibt, sagt sie heute, knapp vier Monate später. Und: „Dieser Preis hat mein Leben verändert.“
So trug die Auszeichnung offenbar dazu bei, dass „Grabtuch aus Schmetterlingen“ von einem chilenischen Verlag ins Spanische übersetzt wird. Das Buch soll im April erscheinen: „Ich kann es kaum erwarten.“ Die Einladung zu einer Lesereise nach Chile und Brasilien erhielt sie bereits vor dem Gewinn des Literaturpreises. Anfang November war sie für jeweils sieben Tage in São Paulo und Santiago. Sie las aus ihren Werken, nahm an Workshops mit Studierenden teil, besuchte das Goethe-Institut, traf die deutsche Botschafterin in Chile und berichtete Schülerinnen und Schüler von ihrer Flucht und von ihrer Poesie.
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„Es war eine unvergessliche Erfahrung“, sagt die 34-Jährige. Sie sei nicht nur zum ersten Mal in Südamerika, sondern erstmals auch ohne ihren Mann auf Reisen gewesen. „Er organisiert sonst immer alles für mich.“ Diesmal sei sie auf sich gestellt gewesen. Auf einen Punkt habe sie allerdings bestanden: „Ich wollte einen Direktflug nach São Paulo, ohne Zwischenlandung. Ich hatte Angst, irgendwo verloren zu gehen“, erzählt sie und lacht. Bei aller Begeisterung für Land und Leute habe es aber auch traurige Momente gegeben: „In Brasilien leben viele arme Menschen. Reichtum und Armut sind dort ganz dicht nebeneinander. Das hat große Emotionen bei mir ausgelöst.“
Wird 2024 für Lina Atfah ein ebenso erfolgreiches Jahr wie 2023? „Ja! Das Glück bleibt mir treu“, sagt sie und verweist auf ihr Horoskop fürs Sternzeichen Waage. Sie vertraut aber nicht nur den Sternen, sondern vor allem sich selbst: „Ich habe viel Energie, habe schon viel geschrieben und werde noch einiges schreiben.“ Und sie wisse um „die große und tiefe Unterstützung“, die ihr zuteil werde - zum Beispiel durch den Lyriker Jan Wagner, das Literaturbüro Ruhr und ihre Übersetzerin Brigitte Oleschinski. Sie sei aber nicht nur einzelnen Menschen, sondern auch Deutschland sehr dankbar. In Syrien habe sie ihre Texte nicht öffentlich lesen dürfen: „Deutschland hat sich sehr menschlich gezeigt, es hat mir eine Stimme und eine Chance gegeben.“
Lina Atfah geht davon aus, dass nach „Das Buch von der fehlenden Ankunft“ und „Grabtuch aus Schmetterlingen“ sowie lyrischen Beiträgen in bislang 15 (!) Anthologien in diesem Jahr ein neues Buch von ihr erscheinen wird. Welcher Art es sein wird, kann sie heute allerdings noch nicht sagen. Ein Lyrikband über ihre „Reise zur Mutterschaft“ sei denkbar. Oder ein Roman, der von ihrer Familiengeschichte, ihrem Leben in Syrien und ihrer Flucht handele. Und dann gebe es ein eher ungewöhnliches Projekt, das sie bei ihrem Stipendium im Künstlerdorf Schöppingen entwickelt habe, über das sie aber zurzeit noch nicht mehr verraten wolle.
Wo das Buch (größtenteils) entstehen wird, steht dagegen bereits fest: auf ihrer Couch. „Halb liegend“ sei ihre bevorzugte Schreibposition, sagt sie. Die größte Kreativität besitze sie, wenn sie ihre Worte, Verse und Ideen (auf Arabisch) in ein DIN-4-Heft schreibe, um sie anschließend per Laptop zu digitalisieren. Ob sich Lina Atfah ihrer Schreibkunst noch lange in der Wohnung an der Dorstener Straße widmen wird, ist jedoch fraglich. „Wir suchen eine neue, eine größere Wohnung“, sagt sie. Nach Möglichkeit in Wanne-Eickel, denn: „Ich fühle mich hier zu Hause.“
>>> Ein Teil des Preisgeldes ging an Familien in Syrien
- Der Literaturpreis Ruhr ist mit 15.000 Euro dotiert. Wie bereits 2020 bei dem von ihr gewonnenen und mit 5000 Euro dotierten Frankfurter LiBeraturpreis hat Lina Atfah einen Teil des Geldes an Familien in Syrien überwiesen.
- Die dortige Situation sei katastrophal, sagt sie. Die Wirtschaftssanktionen träfen nicht das Assad-Regime, sondern die Menschen. „Sie zahlen den Preis. Ich habe das Gefühl, dass wir dort helfen müssen.“ Nach wie vor lebten ihre Großmutter, zwei Onkel und weitere Familienmitglieder in Syrien.
- Auf ihrer Facebook-Seite klagt sie über weltweite Kriege, über Gewalt und Barbarei. Eine Erkenntnis in einem ihrer jüngsten Beiträge: „Die Menschheit ist noch nicht aus der Höhle raus“.
- Insbesondere das Schicksal von Kindern greift sie immer wieder auf. Ihre Botschaft an Heiligabend: „Ich wünsche Frieden für die Kinder. Und ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass Politiker auf der ganzen Welt ein bisschen Menschlichkeit haben. Und ich hoffe, sie lesen Literatur, denn ich habe die Hoffnung verloren, dass sie Geschichte lesen können.“