Herne. Der Klimawandel macht Herne zu schaffen, sagt die Ärztin Britta Paulusch. Im Interview warnt sie vor den Folgen - und kritisiert die Stadt.
Unternimmt die Stadt Herne genug für den Klimaschutz? Stellt der Rat in Zeiten des Klimawandels die richtigen Weichen? Darüber sprach die WAZ mit der Herner Ärztin Britta Paulusch (56), Mitglied von „Health for Future“.
Kurz vor der Sommerpause sagte ein Herner SPD-Ratsherr, man solle keinen „Mist“ über den Klimawandel erzählen. In Herne sei man nicht in Burkina Faso in Afrika, die Durchschnittstemperaturen vor Ort lägen gerade mal bei 10 Grad. Da sei ein Alarmismus, der Menschen Angst mache, fehl am Platze. Wie haben Sie auf diese Aussage reagiert, als sie die hörten?
Ich war schockiert und frustriert, so etwas zu hören. Auch bei einer Durchschnittstemperatur von 10 Grad ist Herne sehr wohl schon jetzt von der Klimakrise betroffen. Wir haben nachweislich einen Anstieg der Durchschnittstemperatur und das 1,5-Grad-Ziel in Deutschland schon gerissen.
Woran machen Sie das fest?
Das belegt nicht nur die Wissenschaft, zum Beispiel im Copernicus-Bericht 2023, das kann man auch fühlen. Wir haben bereits jetzt genug heiße Tage, unter denen wir extrem leiden.
Sie sagen, dass Sie wegen des Burkina-Faso-Vergleichs auch frustriert waren. Warum?
Weil ich in einem Vortrag der Lokalpolitik die medizinischen Auswirkungen und Folgen des Klimawandels gerade erläutert hatte. Da war auch der SPD-Ratsherr dabei. Dass es Klimawandel und Klimakrise gibt, müsste auch jeder mittlerweile mitbekommen haben. Wir spüren die vielen heißen Tage, und wir haben zunehmend Angst vor Gewittern oder Starkregen-Ereignissen.
Welche Folgen hat der Klimawandel für die Menschen?
Es gibt schon jetzt jährlich mehrere Tausend Hitzetote in Deutschland. Hitze beeinträchtigt unseren Kreislauf und unsere Leistungsfähigkeit. Menschen leiden häufiger unter Migräne, Allergien verschlimmern sich, die Rate an Herzinfarkten und Schlaganfällen steigt. Kranke und alte Menschen leiden besonders unter der Hitze, und Frisch-Operierte weisen schlechtere Heilungsraten auf. Für mich als Gynäkologin ist es zudem schockierend, dass die Rate an Frühgeburten steigt und dass Föten, die im ersten Drittel der Schwangerschaft Hitzewellen ausgesetzt waren, gehäuft Missbildungen des Herzens aufweisen. Und nicht zuletzt: Hitze und Extremwetter-Ereignisse verursachen auch schwerwiegende psychische Beeinträchtigungen, so nehmen etwa posttraumatische Belastungsstörungen zum Beispiel nach Flutkatastrophen zu, und die Suizidrate steigt. Außerdem gibt es mehr häusliche Gewalt.
Schon vor fünf Jahren hat eine Expertin aus einem Umweltbüro in einem Vortrag der Herner Lokalpolitik dargelegt, dass der Klimawandel diese Stadt mit voller Wucht treffen werde. Ab 2050, so ihre Vorhersage, herrschten in Herne im Sommer an Dutzenden Tagen Temperaturen von über 40, ja 45 Grad. Will das der Rat nicht wahrhaben, nimmt er die Klimakrise nicht ernst genug?
Viele Ratsmitglieder sagen, dass Herne bei der Klimaanpassung schon auf einem guten Weg sei. Da sage ich: In der Theorie ist das so. Wir haben einen Klimanotstand, wir haben ein Klimafolgen-Anpassungskonzept. In der Praxis setzt die Stadt aber immer wieder andere Prioritäten. Deshalb finde ich, dass in Herne zu wenig gegen die Klimakrise getan wird. Hinzu kommt: Herne ist eine der am dichtesten versiegelten Städte in Deutschland, das verschärft die Krise. Ich verstehe, dass politische Prozesse Zeit brauchen, aber das ist in diesem Fall das Problem. Wir müssen jetzt handeln. Wir müssen uns jetzt an den Klimawandel anpassen, aber wir müssen auch die Ursachen beseitigen.
Nicht erwähnt haben Sie in Ihrer Auflistung den Beschluss von Stadt und Politik zu einer Verkehrswende. Beschlossen wurde Ende 2023, dass es in Herne mittelfristig 30 Prozent weniger Autoverkehr geben soll. Damit bekämpft die Stadt doch den Klimawandel und die Ursachen.
Da muss ich mich wiederholen. Das ist von der Theorie her ein Superansatz, absolut die richtige Richtung. Aber das Ganze muss auch umgesetzt werden, und dafür müssen die Menschen gute Alternativen haben. Dafür muss es für mich beispielsweise ungefährlich und angenehm sein, mich aufs Fahrrad zu setzen. Dafür muss ich es leicht haben, einen Bus zu benutzen und auch vielleicht von hier zügig bis Bochum oder in andere Ruhrgebietsstädte und nicht nur bis Eickel zu kommen. Das ist noch zu umständlich.
Die Grünen schlugen vor der Sommerpause vor, in Herne eine Karte mit kühlen Orten zu erarbeiten, nach dem Vorbild der Stadt Mannheim. An diese Orte sollten Menschen dann gehen können, um sich bei Hitze abzukühlen. Die Stadt und die politische Mehrheit lehnten das ab. Der gesunde Menschenverstand reiche aus, um einen kühlen Ort zu finden, so ein Vertreter der Verwaltung, außerdem könne man, wenn man wolle, auch im Geoportal der Stadt kühle Orte finden. Haben Stadt und politische Mehrheit Recht?
Gegenfrage: Haben Sie mal ins Geoportal geschaut?
Nicht für die Suche nach kühlen Orten.
Die findet man dort nur mit viel Mühe, nach langer Suche. Es reicht nicht, was da im Geoportal verzeichnet ist. Kühle Orte müssen gerade für die besonders gefährdeten Gruppen schnell erreichbar sein. Dazu gehören die alten Menschen. Wenn sie da im dritten Stock bei 40 oder 45 Grad in ihrer aufgeheizten Wohnung sitzen, dann surfen sie mit Sicherheit nicht in einem Geoportal. Das macht auch nicht die alleinerziehende Mutter mit von der Hitze überdrehten oder erschöpften Kindern. Deshalb finde ich, dass wir eine solche Karte brauchen. Es ist sehr bedauerlich, dass die Stadt sich da nicht bewegt. Der Aufwand wäre gering. Übrigens brauchen wir nicht nur so eine Karte, sondern auch mehr kühle Orte, das verlangt allein schon die Gesetzgebung von den Kommunen.
Was müssen kühle Orte leisten?
Das kann die Stadtbibliothek sein, das Rathaus, ein Einkaufszentrum oder ein Seniorenzentrum – wenn die Räume klimatisiert sind. Dort müssen sich Menschen hinsetzen können, etwas zu trinken bekommen, und Eltern müssen dort mit ihren Kindern spielen können. Das alles muss geplant und dann vorgehalten werden.
2020 haben Sie an die damalige Kanzlerin Angela Merkel einen Brief geschrieben, vor dem Klimawandel gewarnt und mehr Einsatz gefordert. Haben Sie eine Antwort bekommen?
Nie. Das finde ich schade, habe ich aber auch nicht erwartet. Anstoß für den Brief gab der Umstand, dass die Biodiversität in Deutschland so stark abgenommen hat. Kurz vor Ende ihrer Kanzlerschaft hatte Merkel auch sinngemäß zugegeben, dass sie zu wenig für den Klimaschutz getan habe. Das fand ich einfach unfassbar, wenn man bedenkt, wie lange sie Kanzlerin war und dass sie Physikerin ist.
Wie bewerten Sie die Klimapolitik der aktuellen Bundesregierung, zu der ja nun auch die Grünen gehören?
Trotz mancher guten Ansätze: Es wird nach wie vor zu wenig gegen die Klimakrise und für die Klimaanpassung getan. Das finde ich ganz schlimm. Da werden Sektorziele aufgeweicht und Umweltschutzvorgaben nicht eingehalten. Die Bundesregierung hat auch einen Verfassungsauftrag, die Bevölkerung zu schützen. Dem wird sie nicht gerecht. Wir brauchen mehr aktiven Klimaschutz und Biodiversitätsschutz. Ich finde es aber auch absolut unlauter, alles der Ampel zuzuschieben, was in den 16 Jahren davor versäumt wurde.
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Wie schützen Sie persönlich Umwelt und Klima?
Ich versuche über die Jahre, meinen Fußabdruck immer weiter zu reduzieren. So ernähre ich mich etwa pflanzenbasiert, ich konsumiere weniger, kaufe Second Hand, habe Ökostrom und benutze, soweit es geht, Fahrrad oder Bahn. Das alles erlebe ich nicht als Verlust an Lebensqualität. Aber ich stoße im Alltag auch immer wieder an Grenzen, etwa, weil der Nahverkehr nicht gut genug ausgebaut ist und ich dann doch wieder aufs Auto zurückgreifen muss. Außerdem versuche ich, durch die Arbeit bei Health for Future meinen „Handabdruck“ zu vergrößern und andere für Klima- und Gesundheitsschutz zu gewinnen – denn wir können diese Krise nicht alleine durch Änderungen im individuellen Verhalten lösen. Zuletzt habe ich mit anderen Menschen aus der Region den Verein „Stadtverwaldung“ gegründet, mit dem wir uns für die Schaffung von Tiny-Forests zur Verbesserung des Mikroklimas und als Biodiversitätsinseln in der Stadt einsetzen wollen.
Wie nehmen Sie Ihre Umwelt wahr: Ändert sich da das Bewusstsein, achten die Menschen heute mehr auf Umwelt- und Klimaschutz?
Ich lebe natürlich in gewisser Weise auch in einer Blase mit Menschen, die eine ähnliche Einstellung haben wie ich. Aber es gibt auch in meiner Familie und in meinem Freundeskreis einige, die ganz anders leben. Gerade in meiner Generation ist das so. Deswegen würde ich aber nie jemanden ablehnen oder ausschließen. Das Bewusstsein für Umwelt- und Klimaschutz ist in den letzten fünf Jahren aber exponentiell gestiegen. Das macht mir Hoffnung.
Bitte diese Sätze beenden
Die Vorgehensweise der radikalen Umweltschutzorganisation Extinction Rebellion, die auch zivilen Ungehorsam beinhaltet,. . .
Ich sehe Extinction Rebellion mit ihrem Grundsatz von Gewaltfreiheit definitiv nicht als radikale Organisation an, habe dort selber eine Zeit lang mitgearbeitet, und finde zivilen Ungehorsam angesichts der existentiellen Bedrohung durch Klimakrise und Biodiversitätsverlust eine nachvollziehbare Möglichkeit.
Den Weg, den die schwedische Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg eingeschlagen hat, . . .
Ich finde das, was Greta Thunberg geleistet hat und das, was sie jetzt tut, zu komplex, um das in einem Satz zu beantworten.
Umwelt- und Klimaschutz spielt angesichts der vielen Krisen und Kriege in der Welt. . .
. . .eine immense Rolle, denn einerseits sind die Klimakrise und die Umweltzerstörung zum Teil Auslöser und Verschärfer von Krisen und Kriegen, und andererseits treiben Kriege die ökologische Katstrophe weiter voran.
Mit dem Flugzeug fliege ich. . .
. . .manchmal – und bin mir des Dilemmas sehr bewusst.
Wenn ich Bundesumweltministerin Steffi Lemke. . .
. . .träfe, würde ich sie bitten, mutig zu sein – denn die Lösung dieser Krise ist mittlerweile nicht mehr eine Frage des Wissens, sondern des Mutes!
Zur Person: Mitglied von „Health for Future“
- Britta Paulusch engagiert sich in der Ortsgruppe Mittleres Ruhrgebiet von Health for Future, einer Bewegung von Beschäftigten im Gesundheitswesen, die sich gegen die Klimakrise und damit für den Schutz der menschlichen Gesundheit einsetzt. Vor der Sommerpause hielt sie im Umweltausschuss einen Vortrag zum Thema „Klimawandel aus medizinischer Sicht - was bedeutet das für die Kommunalpolitik?“ Dabei warnte sie vor den Folgen der Erderwärmung.
- Die 56-Jährige stammt aus Kiel und studierte Medizin an der Ruhr-Uni in Bochum. Zunächst arbeitete sie als Gynäkologin, heute als Psychotherapeutin in einer Praxis in Röhlinghausen. Sie ist verheiratet, hat drei Kinder, zwei Enkel und lebt in Röhlinghausen.