Herne. „Undemokratisch“, „Entwicklung wie in den USA“, „Wählerwillen ignoriert“: Herner Parteien sind entsetzt über die Reform des Kommunalwahlrechts.
CDU, Grüne und SPD haben in NRW eine Reform des Kommunalwahlrechts beschlossen: Sie regeln darin neu, wie viele Sitze es für Wählerstimmen gibt. Wenn das neue Gesetz bereits bei der Kommunalwahl 2020 gegolten hätte, wäre es in NRW und auch in Herne zu Verschiebungen gekommen. Profitiert hätten große Parteien, Verlierer wären kleine Parteien gewesen - mit erheblichen Folgen.
Die NRW-FDP hat ausgerechnet, dass unter dem neuen Wahlrecht die CDU in den Kommunen 2020 landesweit 184 Sitze mehr erreicht hätte. Zusätzliche Sitze hätten demnach auch SPD (plus 84) und Grüne (plus 51) erhalten. Verloren hätten dagegen FDP (minus 95), Linke (minus 64), AfD (minus 29) und sehr kleine Parteien (minus 131). Der Verein „Mehr Demokratie NRW“ hat die Reform so auf den Punkt gebracht: „Durch die geplanten Änderungen wird es zukünftig schwieriger, ein Mandat oder eine Fraktion zu bilden. Kleinere Parteien und Wählergemeinschaften haben das Nachsehen.“
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Auch für einzelne Kommunen kursieren in Düsseldorf (bislang nicht veröffentlichte) Berechnungen. Nach WAZ-Informationen hätten SPD und CDU in Herne auf Basis des neuen Wahlrechts jeweils ein zusätzliches Mandat erhalten. Linkspartei und Piraten hätten demnach jeweils einen Sitz verloren, was gravierende Folgen gehabt hätte: Die Piraten, derzeit nur mit Lars Wind im Rat vertreten, wären gar nicht erst in das Kommunalparlament eingezogen. Und die dreiköpfige Fraktion der Linkspartei hätte ihren Fraktions-Status verloren, was mit erheblichen Einbußen bei den Zuwendungen für die politische Arbeit verbunden gewesen wäre.
Dem Herner SPD-Landtagsabgeordneten Alexander Vogt liegt allerdings eine andere Berechnung vor, wie er auf Anfrage der WAZ mitteilt. Demnach hätte es in Herne nach der Kommunalwahl 2020 nur eine einzige Verschiebung gegeben: Die CDU hätte einen Sitz mehr gehabt (13 statt 12), die Linkspartei ein Mandat weniger (2 statt 3), so der Sozialdemokrat.
So oder so: Hernes Linken-Chef Patrick Gawliczek lässt kein gutes Haar an Schwarz-Rot-Grün. „Das erinnert mich an die Reform bei Bundestagswahlen, bei der regierende Parteien ‚zufälligerweise‘ ein Gesetz beschlossen haben, dass sie selbst bevorteilt - zum Beispiel bezüglich der Grundmandatsklausel“, sagt der 31-Jährige. Er habe „große Angst“, dass Deutschland ähnliche Zustände bekomme wie die USA. „Ich sehe Züge undemokratischen Gedankenguts“, so Gawliczek.
Kritik an der ganz großen Koalition in Düsseldorf übt auch Thomas Nückel (FDP). „Man will hier mit einem mathematischen Trick eine Serie von Verfassungsgerichtsurteilen gegen die Sperrklausel umgehen“, sagt der ehemalige Herner Landtagsabgeordnete. SPD, CDU und Grüne wollten aber wohl nicht kleine Parteien schädigen, sondern eher den Einzug von Einzelbewerbern und Kleingruppen in die Räte verhindern. Dass insbesondere die CDU dadurch viele Sitze gewinne, sei für die Union ein „schöner Nebeneffekt“, so FDP-Landesvorstandsmitglied Nückel.
Die Angst vor einer Zersplitterung der Räte durch die vom derzeitigen Wahlrecht begünstigten Einzelbewerber und kleinen Gruppen sei jedoch unbegründet. Derzeit gebe es in NRW höchstens vier oder fünf Städte, in denen es dadurch Probleme gebe. „Das liegt aber häufig auch an der schlechten Versammlungsleitung im Rat“, so Nückel.
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Ähnlich wie die Linken äußern sich die Piraten. „Durch die geplante Änderung der Wahlrechtsreform verschieben sich die Kräfteverhältnisse in den Parlamenten zugunsten der großen Parteien“, sagt Piraten-Ratsherr Lars Wind. Dieses undemokratische Vorgehen ignoriere den Wählerwillen, führe zu noch mehr Politikverdrossenheit und zeige, „dass die jeweiligen Parteien ihren demokratischen Kompass bei diesem Thema verloren haben“.
Der SPD-Landtagsabgeordnete Alexander Vogt verteidigt die Wahlrechtsänderung. „Beim bisherigen Sitzzuteilungsverfahren kam es regelmäßig zu deutlichen Aufrundungsgewinnen - insbesondere bei Kleinstparteien“, erklärt der 45-Jährige. Es sei vorgekommen, dass die Stimme eines Wählers deshalb „fast doppelt so viel wert“ gewesen sei wie die eines anderen. „Das halten wir für ungerecht – weil jede Stimme gleich viel wert sein sollte.“ Daher hätten sie sich nach ausführlicher Anhörung von Expertinnen und Experten entschlossen, das gerechtere Verfahren des CDU-Grünen-Vorschlags zu unterstützen.
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Der Vorwurf der FDP-Landtagsfraktion, dass CDU, Grüne und SPD ein „kleines Machtkartell“ gebildet hätten, habe mit der Realität nichts zu tun. Es sei ein „transparenter und offener Prozess“ mit öffentlichen Anhörungen und Beratungen gewesen. Sie hätten alternativ auch das verfassungsrechtlich anerkannte Verfahren nach d’Hondt nehmen können, das beispielsweise bei Kommunalwahlen in Bayern gilt und früher auch in NRW und bei Bundestagswahlen genutzt worden sei. „Dieses Verfahren bevorzugt aber systematisch große Parteien. Mit dem neuen Verfahren beenden wir übertriebene Aufrundungsgewinne, ohne neue Ungerechtigkeiten zu produzieren“, sagt der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion.
>>> Das Herner Kommunalwahlergebnis von 2020
- SPD 44,1 Prozent (minus 0,7 Prozentpunkte; 28 Sitze), CDU 20,0 Prozent (minus 5,9; 12 Sitze), Grüne 15,8 Prozent (plus 6,5; 10 Sitze), AfD 8,5 Prozent (plus 4,3; 5 Sitze), Die Linke 4,1 Prozent (minus 2,1; 3 Sitze), FDP 3,3 Prozent (plus 0,5; 2 Sitze), Unabhängige Bürger 1,6 Prozent (keine Veränderung, 1 Sitz), Piraten 1,6 Prozent (minus 1,1; 1 Sitz). Die AfD hat sich aufgrund interner Auseinandersetzungen noch vor der ersten Ratssitzung gespalten in eine dreiköpfige AfD-Ratsfraktion und eine zweiköpfige Ratsgruppe Bündnis Deutschland - WfH.
- Den Sprung in den Rat verpassten das Migrantenbündnis Wählergemeinschaft Wanne-Herne (WWH) mit 0,9 Prozent sowie die Einzelbewerber Özgur Sezer mit 0,06 Prozent (29 Stimmen) und Nadine Grezesinski (20 Stimmen).