Herne. Was haben französische Soldaten während der Ruhrbesetzung aus Herne nach Hause geschrieben? Das zeigen Feldpostkarten, die ein Forscher sichtet.
Tausende Franzosen lebten während der Ruhrbesetzung in Herne. Sie sollten die deutschen Reparationsverpflichtungen sichern, also vor allem Kohle und Koks. Viel ist schon geschrieben worden über die Zeit von 1923 bis 1925, über den Einmarsch der Franzosen im Ruhrgebiet, den passiven Widerstand der Deutschen, die Strafen und Übergriffe der Besatzer oder die Not der Bürgerinnen und Bürger. Benjamin Volff fügt nun ein weiteres Kapitel hinzu: Der 52-jährige Franzose forscht darüber, wie Frankreich, vom Ersten Weltkrieg ebenfalls schwer getroffen, die Ruhrbesetzung umsetzen konnte. Einer seiner Schwerpunkte ist Herne.
Die Besetzung Deutschlands und vor allem des Ruhrgebiets sei in Frankreich noch wenig bekannt, sagt Volff. Das will er ändern. Seit er mit seiner Familie im Ruhrgebiet wohne, arbeite er an dem Thema. Dass er dafür auch viel Zeit im Herner Stadtarchiv verbringt, sei nicht ungewöhnlich: „Herne war ein Schwerpunkt der Besatzung des Kohlereviers.“ Nun hat sich der promovierte Lehrer alte Feldpostkarten vorgenommen. 40 Ansichtskarten, die Besatzer vor rund 100 Jahren nach Hause schickten und die über Umwege später ins Herner Stadtarchiv kamen, sollen ihm zeigen, wie die „einfachen“ Franzosen über ihre Zeit im Ruhrgebiet dachten. Mit Samthandschuhen hat er die alten Postkarten gesichtet, soweit es ging entziffert und einige davon ins Deutsche übersetzt.
Franzose: Herne ist „ein wunderschöner Ort“
Feindseligkeit sei in den Feldpostkarten „kein dominantes Thema“, berichtet Volff nach einer ersten Auswertung. Die Berichte in die Heimat seien eher positiv. „Wenn Ihr Lust habt, kommt Ihr bis nach Herne“, schreibt etwa ein Besatzer, dessen Unterschrift unleserlich sei, im April 1923 an eine gewisse Lucienne und einen gewissen Julien nach Hause. Herne sei „ein wunderschöner Ort“, berichtet er und präsentiert auf der Vorderseite, koloriert, das damals noch recht junge Herner Rathaus. Er schreibt weiter, hier vielleicht mit einer humorvollen Note: „Allerdings ist die Umgebung sehr industriell geprägt. Man sieht überall Kohle, als Landschaft ist es wunderschön.“
Ähnlich äußert sich ein weiterer unbekannter Absender. „Das Land ist nicht zu schlecht, es gibt viele Fabriken“, heißt es auf einer Ansichtskarte vom April 1923 an den „lieben Papa“, die ebenfalls koloriert den Hafen und die Zeche Friedrich der Große zeigt. Ironie sei das nicht, sagt Volff. Die Besatzer, oft einfache Arbeiter, Landwirte oder Angestellte, die sich in der Fremde plötzlich in einer quirligen Metropole wiederfanden, seien beeindruckt gewesen von der geballten Wirtschaftskraft aus Kohle, Koks und Stahl.
Besatzungssoldat klagt: Seit vier Monaten kein Bett
Auf die 70.000 Einwohner in Herne seien 5500 französische Soldaten mit 250 Pferden und Hunderten von militärischen Fahrzeugen gekommen. Das Amt Sodingen, das erst 1928 in Herne eingemeindet wurde, habe 24.000 Einwohner gezählt. Besetzt worden sei das Amt durch 1452 Franzosen, die 285 Pferde mitgebracht hätten.
„Die Kontrolle des Rhein-Herne-Kanals war für die Okkupationstruppen entscheidend“, sagt der Franzose. Die Oberen aus Politik und Wirtschaft der Stadt seien verhaftet und ausgewiesen worden. Nach den Berichten der Stadt Herne und des Amts Sodingen seien bei der Ruhrbesatzung auch wertvolle Gegenstände und die öffentlichen Kassen geplündert worden.
Auch wenn die Besatzer in den Feldpostkarten meist positiv von Herne berichteten: Für die gewöhnlichen Soldaten sei die Okkupation „kein Ruhezustand“ gewesen, sagt der Forscher. So schreibt ein Louis im Mai 1923 an einen lieben Gautier, dass er in Herne seit vier Monaten kein Bett habe, nur ein bisschen Stroh, und damit müsse er auf dem Fußboden schlafen. Die Rückseite der Karte zeigt den Sodinger Volkspark mit Aussichtsturm.
„Gestern Abend gab es einige Revolverschüsse auf der Straße“
Ein anderer Besatzungssoldat schickt eine Postkarte von der Bahnhofstraße und beschwert sich bei seinem Bruder: „Wir sind schlecht genährt“. Ein Maurice schreibt im September 1923 eine Karte der Unteren Bahnhofstraße an seine Eltern und beklagt sich ebenfalls: „Wir haben dieses Mal mindestens 25 Kilometer zu Fuß gemacht mit 30 Kilo auf dem Rücken, man könnte mein Hemd schleudern.“
Nur ausnahmsweise komme in den Karten Feindseligkeit zu Tage. So schreibt ein deprimierter Soldat, im benachbarten Recklinghausen stationiert, auf einer Ansichtskarte von der Herner Zeche von der Heydt an seine „Liebe Tante“, dass sein Kumpel nach Hause auf Fronturlaub durfte, er aber unter den „Mistkerlen“, den „Boches“ (Schimpfwort für „Deutsche“) bleiben müsse.
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Ein anderer schreibt auf einer Karte der Bahnhofstraße: „Liebe Suzanne, (...) kehren wir um, lassen die Boches im Stich, meines Erachtens haben wir genug getan.“ Und nur einmal werde die separatistische Bewegung thematisiert: „Lieber Papa“, heißt es da auf einer Postkarte mit Hafen und Zeche Friedrich der Große, „den ersten Abend meiner Ankunft haben sie (die Deutschen) ein Geschäft geplündert und gestern Abend gab es einige Revolverschüsse auf der Straße, weil die rheinische Republik verkündet wurde“.
Ruhrbesetzung: „Fortsetzen des Kriegs mit anderen Methoden“
Die Ruhrbesetzung, sagt Benjamin Volff, sei „das Fortsetzen des Kriegs mit anderen Methoden“ gewesen. Geplant worden sei sie seit dem Versailler Vertrag vom Juni 1919: „Die französische Regierung erwartete, dass Deutschland sich auf eine Nichterfüllung der Lieferungen im Rahmen der geforderten Reparationen einlassen würde, um Kontrolle über den Kern der deutschen Industrie auszuüben.“ Zweck Frankreichs sei es zugleich gewesen, seine Versorgung von Kohle zu sichern und ein Wiedererstarken der wirtschaftlichen und militärischen Macht des Reichs zu verhindern. Das Kabinett des deutschen Reichskanzlers Cuno habe am 13. Januar den sogenannten passiven Widerstand verkündet, also die Mitarbeit mit den Besatzern und die Kohlelieferungen an die Belgier und Franzosen verweigert.
Mit Folgen: Für die Haushalte habe sich die wirtschaftliche Situation verschlechtert. „Die Situation in Herne und Sodingen war sehr schwierig für die Einwohner“. Sie seien meist Bergbauarbeiter gewesen und dementsprechend schwer von dem von den deutschen Behörden verhängten Arbeitsverbot getroffen worden. „Wegen der Requisitionen von Lebensmitteln und Wohnungen und den gelegentlichen Übergriffen durch die Truppen geriet das alltägliche Leben in eine kritische Lage“, sagt Volff.
>> WEITERE INFORMATIONEN: Recherche für die zweite Doktorarbeit
Benjamin Volff zog 2018 mit seiner Familie von Frankreich nach Deutschland um. Seine Frau ist Deutsche und stammt aus Essen. Gemeinsam haben sie zwei Kinder und wohnen in Mülheim an der Ruhr. Über die Ruhrbesetzung 1923 schreibt der 52-Jährige nun seine zweite Doktorarbeit mit den Schwerpunkten Herne und Recklinghausen; den Abschluss plant er für 2024.
Die weiteren Teile der WAZ-Serie „Herne historisch“
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Sein Studium absolvierte er unter anderem in Metz und Paris und promovierte in der Hauptstadt über die Geschichte Äthiopiens. Seit 1995 war er Lehrer für Französisch, Geschichte und Geografie an einem Berufskolleg und einem Gymnasium. Im Ruhr Museum in Essen bietet Volff, der aus Lothringen stammt, Gästeführungen auf Französisch an. Im kommenden Jahr möchte er an Ausstellungen im Ruhrgebiet mitwirken. Außerdem, sagt er, möchte er den historischen Roman „Franzosenliebchen“ des Herner Autors Jan Zweyer, der die Ruhrbesetzung thematisiert, ins Französische übersetzen.