Herne.. Beim Stöbern auf einem Pariser Trödelmarkt stieß Gerd Körner auf Postkarten, die ein Franzose 1923 im besetzten Herne geschrieben hatte.


23. April 1923 in Herne. Ein gewisser Jean Langouet schickt eine Postkarte mit einem Bild der Bahnhofstraße in seine französische Heimat Courbevoie nahe Paris: „Meine guten lieben Eltern, ich umarme Euch von hier“, so der auf Französisch verfasste kurze Gruß.

Mitte der 80er-Jahre in Paris. Der Baukauer Gerd Körner stößt auf einem Trödelmarkt beim Stöbern nach historischen Fotos von Bahnhofsgebäuden zufällig auf diese und zahlreiche weitere Postkartengrüße von „Jean“, die dieser 1923 und 1924 vor allem mit Motiven aus Herne an die Familie und Bekannte verschickt hatte. Körner kauft die historischen Karten und legt sie zunächst beiseite. 30 Jahre später fallen sie ihm zu Hause an der Jobststraße beim Aufräumen wieder in die Hände. Eine Frage lässt ihn fortan nicht los: Welche Geschichte verbirgt sich hinter den Herner Postkarten? Wie bei einem Puzzle versucht der 70-jährige Pensionär, Teil für Teil zusammenzusetzen.

Die Frage nach dem Grund für Jean Langouets Aufenthalt in Herne ließ sich schnell beanworten: „1923 fand die Ruhrbesetzung statt“, sagt Gerd Körner. Im Zuge dieses politisch-militärischen Konflikts kamen französisch-belgische Truppen ins Ruhrgebiet, um die Kohle- und Koksproduktion als „Pfand“ zur Erfüllung der deutschen Reparationsverpflichtungen zu sichern.

Ein Blick auf die Bahnhofstraße: Die Postkarte wurde im April 1923 geschrieben.
Ein Blick auf die Bahnhofstraße: Die Postkarte wurde im April 1923 geschrieben. © Bodemer | Unbekannt






Im Zuge seiner Recherchen – unter anderem auch im Herner Stadtarchiv – fand der frühere Finanzbeamte heraus, dass damals von Frankreich aber nicht nur Soldaten, sondern auch Beamte und Ingenieure nach Deutschland entsandt wurden. Doch welchen beruflichen Hintergrund hatte Jean?

Nähere Aufschlüsse erhoffte sich Gerd Körner durch eine Übersetzung der Postkartengrüße. Diesen Part übernahm Heike Wahlmann. Die Lebensgefährtin von Körners Nachbar Björn Größel verfügt als Saarbrückerin zwar über gute Französisch-Kenntnisse, doch: „Die Schrift war nur schwer zu entziffern“, sagt die 49-Jährige.

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. © Socrates Tassos/FUNKE Foto Servi | Socrates Tassos/FUNKE Foto Servi






Was sich aus Jeans (sehr persönlichen) Grüßen erschließen lässt: Die Langouets führten ein Geschäft bzw. arbeiteten in einem Geschäft in Courbevoie an der Seine und hatten mehrere Söhne. Und: Jeans Verhältnis zu den Eltern war offenbar sehr innig, wie die häufiger übermittelten „1000 Küsse“ erahnen lassen.

Auffällig: Zwei Karten hatte der Franzose in Waltrop geschrieben. Was führte ihn damals nach Waltrop? Fragt sich Körner - und erinnert sich daran, dass sein Großvater ihm mal erzählte, dass es dort 1923 einen Anschlag gegeben hatte. Körners Recherchen ergeben: Am 7. April 1923 hatte eine deutsche Untergrundgruppe namens „Heinz“ in Waltrop einen wichtigen Emscherdurchlass gesprengt.

Ob Jean Langouet ein Soldat, Ingenieur oder Beamter war, kann Körner nicht herausfinden. Details über die Ruhrbesetzung in Herne aber sehr wohl: „Als ich einem ehemaligen Kollegen aus Recklinghausen von den Postkarten erzählte, fiel ihm ein, dass er mal bei einer Bibliotheksauflösung zwei alte ,Ruhrkampf’-Bücher gerettet hat.“ Diese beiden Bände, die auch die Ruhrbesetzung in Herne aufgreifen, habe der Bekannte ihm geschenkt.

Ein Geschenk erhält in Kürze auch die Stadt: Gerd Körner will dem Stadtarchiv alle Herner Postkarten von Jean Langouet übergeben.


Ruhrbesetzung: Einmarsch im Jahr 1923

Die Ruhrbesetzung begann 1923. Vom 11. bis 16. Januar besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet, weil das Deutsche Reich nach dem Ersten Weltkrieg vereinbarte Reparationszahlungen schuldig blieb.

Der Einmarsch stieß auf Empörung. Die Reichsregierung rief die Bevölkerung zum passiven Widerstand („Ruhrkampf“) auf. Es fanden Generalstreiks statt, Betriebe und Behörden leisteten den Anordnungen der Besatzer nicht Folge. Im September 1923 musste Reichskanzler Stresemann aufgrund der wirtschaftlichen Situation das Ende des passiven Widerstands verkünden. Die Besetzung endet offiziell Mitte 1925.

Der Herner Autor Jan Zweyer schrieb 2007 den historischen Krimi „Franzosenliebchen“, der zurzeit der Ruhrbesetzung spielt.