Gelsenkirchen. Positives herausstellen und Probleme offen benennen, Mitarbeiter von Bürokratie entlasten: Was Gelsenkirchens neuer Jugendamtsleiter plant.

Björn Rosigkeit kommt aus der Praxis. Der langjährige Leiter eines Christlichen Jugenddorfs weiß genau, mit welchen Problemen seine Mitarbeitenden im Jugendamt Gelsenkirchen zu kämpfen haben. Und er weiß auch, dass es eigentlich mehr Menschen braucht, um vor allem im Allgemeinen städtischen Sozialdienst (ASD) allen Klienten gerecht werden zu können. Es sind längst entsprechende Stellen ausgeschrieben. Als er sein neues Amt im November 2023 in Gelsenkirchen antrat, lag gerade die neue Personalbemessung durch das Frankfurter ISS-Institut für den ASD vor, die den Bedarf ermitteln sollte. 148 Stellen sollten es sein, errechnete das ISS, 25,75 mehr als bisher an Planstellen vorhanden.

Gerade im Allgemeinen städtischen Sozialdienst gibt es immer Gefahren

Damals gab es gerade mal 110 Mitarbeiter und auch heute sind längst nicht alle Stellen besetzt. Immerhin sind es nun 121, die Suche geht weiter, Menschen mit sozialem Studium sind überall gefragt. Man nutzt alle Möglichkeiten der Personalgewinnung inklusive im Dualen Studium befindlichen Studierenden. „Es ist ein Spagat“, räumt Rosigkeit im WAZ-Gespräch ein. „Aber ich bin optimistisch und auch stolz auf das, was das Jugendamt Gelsenkirchen leistet.“ Fallzahlen je Mitarbeiter mag er nicht nennen: „Das ist zu unkonkret. Mancher braucht nur einmal Unterstützung, andere sind langfristig betreut. Und es gibt gerade jetzt in den Ferien auch viele Fälle, die von Kollegen übernommen werden müssen“, räumt er ein. „Es braucht mehr Mitarbeiter. Und ja, es ist eine Zerreißprobe. Gerade im ASD gibt es immer gewisse Gefahren. Aber Gelsenkirchen ist nicht schlechter aufgestellt als die Nachbarkommunen. Ehrliche Rückmeldungen sind wichtig, wir müssen den Austausch der Ämter im Ruhrgebiet über wirksame Instrumente vorantreiben. Sagen: Wem hilft was? Wir kämpfen doch alle mit ähnlichen Problemen.“ regt er an.

Björn Rosigkeit will nicht jammern, sondern prüfen, wie Entlastung für die Mitarbeiter möglich wird. Offen über Probleme zu reden und Lösungen auch mit anderen Jugendämtern gemeinsam zu suchen ist sein Konzept.
Björn Rosigkeit will nicht jammern, sondern prüfen, wie Entlastung für die Mitarbeiter möglich wird. Offen über Probleme zu reden und Lösungen auch mit anderen Jugendämtern gemeinsam zu suchen ist sein Konzept. © FUNKE Foto Services | Daniel Attia

Besonders am Herzen liegt ihm, wirksame Entlastung für die Mitarbeiter gerade im hochbelasteten ASD zu schaffen. Bei der Ausstattung des Teams mit Dienstwagen etwa hat sich bereits etwas getan, aber auch die Anschaffung von Laptops für jeden, um eine doppelte Dokumentation weitestgehend vermeiden zu können, wichtige Stichworte schon beim Hausbesuch eingeben zu können, könne Entlastung schaffen, glaubt Rosigkeit. „Aber viele haben das Gefühl, nicht genug zu schaffen. Der Berg des Unerledigten bei der eigentlichen Arbeit - der Routineüberprüfung von Klienten - wird immer größer, weil aktuelle Einsätze dazwischen kommen. Wir müssen Wege finden, Mitarbeitenden die Last von den Schultern zu nehmen!“

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Eine Chance biete auch die Einführung eines Eingangsmanagements, um unnötige Störungen und lästiges Verbinden von A nach B zu vermeiden. „Ich denke an eine Optimierung des Telefondienstes. Bisher muss viel hin und her verbunden werden, das reißt die Fachkräfte aus der Arbeit und verärgert auch die Anrufer“, erläutert Rosigkeit die Pläne.

Mitarbeiter von Bürokratie entlasten

Er denkt dabei auch an bürokratische Entlastung. In enger Abstimmung mit dem Amtsgericht soll geprüft werden, wie einerseits Stellungnahmen und Beurteilungen optimiert werden können, die für das Familiengericht notwendig sind. Diese müssen bestimmten Standards entsprechen, um die Familienrichter in die Lage zu versetzen, gerechte Urteile zu sprechen. Andererseits kosten die Gerichtstermine samt Vorbereitung die Mitarbeitenden sehr viel Energie und Zeit. Im gelebten Miteinander soll geprüft werden, inwiefern eine Entlastung für die Mitarbeiter des ASD möglich ist und ob eine persönliche Teilnahme der Mitarbeiter an Gerichtsterminen stets erforderlich ist. Zu prüfen, ob der Einsatz von künstlicher Intelligenz hilfreich sein kann, sieht Rosigkeit ebenfalls als Chance. „Wichtig ist, die Wertschätzung für die Mitarbeiter zu steigern. Ihnen zu zeigen: Ihr macht gute Arbeit. Ihr dürft priorisieren“ erläutert Rosigkeit seinen Fokus.

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Es liegt in der Natur der Kinderschutz-Arbeit, dass sie kaum gesichert planbar ist. „Wenn etwa, wie bei dem tödlichen Angriff auf die dreifache Mutter in Schalke vor kurzem, von jetzt auf gleich drei kleine Kinder untergebracht werden müssen, die eine extrem traumatisierende Situation erlebt haben, dann muss alles andere liegen bleiben. Und für diese Kinder eine geeignete Unterbringung zu finden, ist extrem schwer. Wir haben viel zu wenige dafür geeignete Familien und Einrichtungen. Bei dem Säugling etwa war es relativ einfach, aber bei älteren Kindern, die zudem kein Deutsch verstehen, wird es besonders schwer“, nennt er ein besonders dramatisches Beispiel.

Noch immer gibt es Aktenberge im Jugendamt. Die doppelte Dokumentation ist auch ein Faktor, der Zeit frisst. Eine bessere Digitalausstattung sieht er als Teil der Lösung, Entbürokratisierung ebenfalls.
Noch immer gibt es Aktenberge im Jugendamt. Die doppelte Dokumentation ist auch ein Faktor, der Zeit frisst. Eine bessere Digitalausstattung sieht er als Teil der Lösung, Entbürokratisierung ebenfalls. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

Zum Teil müssen auch Möglichkeiten in weit entfernten Teilen der Republik angesteuert werden. Die Suche und Unterbringung kostet sehr viel Zeit, Energie und extrem viel Geld. Nach solchen Einsätzen steht für die Mitarbeitenden supervisorische Unterstützung zur Verfügung. Bei aller Erfahrung im Umgang mit tragischen Schicksalen und Professionalität: An solch dramatische Erlebnisse kann sich niemand gewöhnen, weiß Rosigkeit.

Es gibt zu viele Brückenprojekte, Provisorien ohne Langzeitperspektive

Was der Arbeit des Jugendamtes fehle, sei eine breite Lobby und auch die Möglichkeit, in allen Bereichen nachhaltig zu arbeiten, klagt der Jugendamtsleiter. „Es gibt unsäglich viele Brückenprojekte, die zum Teil unter dem Radar laufen“, nennt er zwei der Kernprobleme. Gerade für unbegleitete junge Flüchtlinge gebe es viele Provisorien, die über freie Träger laufen und auch sehr gut funktionieren. Sie sind abgestimmt mit dem Jugendamt, aber ohne offizielle Betriebserlaubnis, rechtlich nicht abgesichert.

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„Der ASD inklusive Kinderschutz-Team ist das Herzstück des Amtes“, bestätigt Rosigkeit. „Aber das Jugendamt ist sehr viel mehr. Und Gelsenkirchen ist in vielen Bereichen besonders gut aufgestellt. Allein 50 Einrichtungen offener Kinder- und Jugendarbeit, betrieben meist von Freien Trägern als niederschwellige Anlaufstellen in allen Stadtteilen: So viele hat kaum eine andere Stadt. Und auch die städtischen Bauspielplätze haben ein ausgezeichnetes Angebot“, nennt er die positiven Eckdaten. Das Projekt „Zukunft früh sichern“, Schulsozialarbeit, das Verfolgen und Verhindern von Schulabsentismus, Integrationshelfer, die Unterhaltsvorschusskasse - all das fällt unter Jugendamtsarbeit. Positives und Erreichtes mehr herausstellen, ohne Kritisches zu verschweigen: Das ist das Credo des „Neuen“ im Jugendamt.