Gelsenkirchen. Bei Hausbesuchen wissen Gelsenkirchens Jugendamtsmitarbeiterinnen fast nie, was sie erwartet. Bei neuen Fällen gibt es manch böse Überraschung.
Zur Mittagspause versammelt sich das Team Mitte der Bezirkssozialarbeiter des Jugendamtes aus Gelsenkirchen, soweit terminlich machbar, im Büro von Nina Szczesny. Sie ist als Sozialarbeiterin in Gelsenkirchen-Mitte unterwegs. Die Kollegen haben alle haben etwas zu Essen dabei. Jeder Stuhl ist besetzt, mancher hat sein Essen auf dem Schoss. Es sieht nach gemütlichem Treffen aus, trotz des Stresses, den jeder und jede hier hat. Eine Kantine gibt es nicht, außerdem muss es ja schnell gehen und die Pause dient auch dem dienstlichen Austausch.
Heute hat Nina Szczesny drei Hausbesuche auf dem Plan. Das ist nicht jeden Tag so. Es gibt auch Tage, die sie und ihre Kollegen am Schreibtisch und Telefon verbringen. Selbst wenn keine Besuche geplant sind: Wenn eine Meldung hereinkommt, müssen sie trotzdem raus. Vor allem, wenn die Meldung „Kindeswohl in Gefahr“ von Polizei, Schule, Kita oder Kinderarzt kommt.
Es gibt auch Meldungen von Nachbarn, Familien, Ex-Partnern, die nicht auf Tatsachen basieren. Bei den drei Außenterminen heute ist klar: Es geht um häusliche Gewalt, um Verwahrlosung und um existenzielle Not. Der erste Weg führt zu einem Vater, der ursprünglich auffällig geworden war, weil er seine Partnerin und Mutter seiner beiden Kinder geschlagen hatte. Mittlerweile aber leben die beiden gemeinsamen Kinder bei ihm. Und beim Hausbesuch sieht es so aus, als ob es ihnen dort auch gut erginge. Wie konnte es dazu kommen?
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Als das Paar längst getrennt war, hatten Nachbarn der alleinerziehenden Mutter die Polizei alarmiert. Die Beamten fanden die Kinder allein zu Hause vor, die Wohnung war extrem verwahrlost. Über Stunden ließ die Mutter sich nicht blicken. Als das Jugendamt der Frau anbot, sich um die Kinder zu kümmern, damit sie sich und ihr Leben neu sortieren kann, nahm sie gern an. Auch bei späteren Nachfragen und Kontakten wollte sie die Kinder nicht zurück. Es stellte sich heraus, dass sie bereits ein weiteres Kind von einem anderen Mann hatte. Auch dieses Kind ließ sie nach der Trennung bei der Familie des Kindsvaters.
Der Vater des zweiten und dritten Kindes der Frau lebt nun mit den beiden lebhaften, durchaus fröhlich wirkenden Kindern in einer winzigen Wohnung. Kontakt zur Kindesmutter gibt es nicht. Laut Vater fragen die Kinder auch nicht nach ihr. Ob das stimmt - Nina Szczesny weiß es nicht. Die Kollegin von der Familienhilfe, die den Vater unterstützt und heute auch vor Ort ist, konnte die Mutter jedenfalls nicht erreichen. Die Mutter hat noch eine der Krankenversicherungskarten, zudem fehlt eine Vollmacht. Noch bekommt der Mann viel Unterstützung vom Amt; aber es ist Hilfe zur Selbsthilfe, betont Szczesny. Die Klienten müssen auch selbst aktiv werden, sich kümmern. Um Kita-Plätze, bei Bedarf um Sprachkurse, Arbeitsplatz und Wohnung. Den Vater behält das Amt natürlich dennoch im Blick.
Wir sind mit einem Poolfahrzeug vom Amt unterwegs. „Das bieten nicht alle Ämter an, und es ist schon hilfreich. Wir müssen ja auch manchmal Kinder transportieren“, sagt Szczesny. Die Kollegen sind eigentlich immer zu zweit unterwegs, es gilt das Vier-Augen-Prinzip. Im Fall des nächsten Besuchs ist das besonders angezeigt. Neben Nina Szczesny der erfahrenen Kollegin Nadine ist Joell dabei, der studentische Kollege, der sein Duales Studium mit 2,5 Arbeitstagen im Amt finanziert. Wir besuchen eine junge Mutter mit zwei kleinen Kindern. Sie hatte vor zehn Tagen die Polizei gerufen, weil ihr Ehemann und Vater der Mädchen sie verprügelt hat. Er prügelte auf sie ein, als sie das einjährige, weinende Kind, das gefallen war, auf dem Arm tröstete. Die Frau erzählt noch viel mehr, aber sie ist schwer zu verstehen. Der Besuch bei ihr ist angesetzt, weil am nächsten Tag der Wohnungsverweis für den Mann von der Polizei ausläuft.
„Oft ist es so, dass der Mann dann längst wieder da ist und die geschlagene Frau alles abwiegelt, scheinbar alles wieder gut ist“, weiß Szczesny. Heute ist das nicht so. Die Kinder hängen extrem an der Mutter, die Mutter ist offensichtlich noch geschockt, will den Ehemann nicht mehr aufnehmen. Handynummern werden getauscht, auch der Ehemann soll kontaktiert werden. Die Mutter soll sich melden, wenn es Probleme gibt und im Notfall erneut die Polizei rufen. Eine Verwandte der Frau ist gerade zu Besuch, sie steht der verzweifelten Frau bei.
Später erfahre ich: Der Mann ist zurückgekommen, aber es gab erneut Streit, die Frau will sich von ihm trennen. Bei den vielen behördlichen Erledigungen, die nun anstehen, kann das Jugendamt nicht helfen. Für das Jugendamt geht es um das Wohl der Kinder. Für erzieherische Unterstützung wird es bei Bedarf niederschwellige Hilfe geben. Für den Rest verweist Szczesny die Frau an die Flüchtlingsberatung. „Da gibt es in Gelsenkirchen zum Glück sehr viele hilfreiche Angebote. Das ist leider nicht in allen Städten so“, weiß sie.
Kinder aus der Familie nehmen nur bei akuter Gefahr
Zum Abschluss des Tages möchte Nina Szczesny noch mit einem Vorurteil aufräumen: „Oft wird dem Jugendamt ja vorgeworfen, Kinder ohne ausreichenden Grund aus den Familien zu nehmen. Das würden wir niemals tun ohne zwingenden Grund. Kinder unterzubringen in Notstellen oder Heimen ist das allerletzte Mittel, das passiert nur bei akuter Gefährdung. Zumal es kaum freie Plätze gibt dafür. Und außerdem ist die Unterbringung extrem teuer, das könnten wir gar nicht.“