Gelsenkirchen. Tausende Überstunden beklagt der Gelsenkirchener Polizeigewerkschafter Daniel Laßek. Ärger gibt es auch anderweitig in der Behörde - wegen Geld.
Sie werden sie nicht los - abertausende Überstunden. Das war schon vor der Corona-Epidemie so, das war danach so. Und es trifft erst recht zu jetzt, nach den Fußball-Europameisterschaften. Da sind Polizeibeamtinnen und -beamte kaum aus ihren Stiefeln herausgekommen. Manche Einsatzkraft wird in den mit einer Urlaubssperre versehenen Marathon-Einsatzwochen die Faust in der Tasche geballt haben. Denn das NRW-Innenministerium hatte im Februar per „Rundverfügung“ an alle Polizeidienststellen klargestellt, dass fünf Stunden Mehrarbeit pro Monat unter die „Bagatellgrenze“ fallen und von daher nicht angerechnet werden dürfen. Die Gewerkschaft der Polizei protestierte wütend.
Polizei Gelsenkirchen leistet im Schnitt 85.639 Überstunden in den vergangenen fünf Jahren
Wie steht es um die Überstundenlage bei der Polizei in Gelsenkirchen? NRW-Innenminister Herbert Reul ließ seiner Zusage nach der jüngsten Stippvisite in Gelsenkirchen Taten folgen. Wie aus der Antwort des Ministeriums hervorgeht, haben die Gelsenkirchener Einsatzkräfte in den vergangenen fünf Jahren im Schnitt 85.639 Stunden Mehrarbeit angehäuft. Zuletzt, im Jahr 2022, waren es 78.553 Stunden. Aktuellere Zahlen gibt es nicht, die würden derzeit noch ausgewertet, sagt ein Sprecher des Ministers. Bei 720 Polizeikräften in der Emscherstadt hat also jeder von ihnen rund 119 Überstunden auf dem Zettel stehen.
Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn neben der Mehrarbeit, die entsteht, wenn Polizistinnen und Polizisten beispielsweise noch nach Schichtende durch eine laufende Unfallaufnahme oder durch die Verfolgung eines Täters eingebunden sind, gibt es einen weiteren Berg an Stunden, der sich durch die sogenannte flexible Arbeitszeitgestaltung (FLAZ) aufgetürmt hat.
Dahinter verbirgt sich das formale Prozedere nach Einsätzen, wenn die erforderlichen Berichte geschrieben werden. Auch das geschieht nicht selten dann, wenn die eigentliche Arbeitszeit bereits erschöpft ist. Gelsenkirchen hat es nach Angaben des Ministeriums im Schnitt in den vergangenen fünf Jahren auf 59.963 solcher Überstunden gebracht. Zuletzt, ebenfalls 2022, waren es 62.692 Stunden. Umliegenden Behörden geht es nicht besser (siehe Grafiken).
Das Überstunden-System bei der Polizei ist kompliziert. Mehrarbeit ist auszahlbar (frühestens nach einem Jahr), zusätzliche Stunden durch flexible Arbeitszeitgestaltung (FLAZ) wird mit Freizeitausgleich verrechnet. Oder man häuft das Plus an Arbeit auf ein sogenanntes Langzeitarbeitskonto. Die Füllgrenze dieses Kontos liegt bei 2132 Stunden, gleichbedeutend mit einer Freistellung von einem Jahr. Jährlich dürfen auf dieses Konto allerdings laut GdP nur maximal 122 Stunden aus der Mehrarbeit und 156 Stunden aus Zeitguthaben (FLAZ) eingehen. Für die Mehrarbeit gilt eine Verfallsfrist von drei Jahren.
In NRW arbeiten rund 40.500 Polizeibeamte. Ihre reguläre Arbeitszeit beträgt 41 Stunden pro Woche, aber Mehrarbeit gehört für viele zum Alltag. Die Heraufsetzung der Arbeitswochenzeit von 39 auf 41 Stunden ist vor rund zwei Jahrzehnten als „temporäre Maßnahme“ verkündet worden sei – seither gilt sie aber fortlaufend.
Unterschied: Mehrarbeit kann man sich bei der Polizei auszahlen lassen, FLAZ-Stunden werden hingegen mit Freizeit abgegolten. Oder auf einem Langzeitarbeitskonto geparkt. Die Füllobergrenze liegt laut dabei GdP bei 2132 Stunden, gleichbedeutend mit einer Freistellung für ein Jahr.
Für Daniel Laßek, den Vorsitzenden der GdP Gelsenkirchen, resultieren daraus ganz klare Forderungen, um bei seinen Kolleginnen und Kollegen nicht noch mehr Verdruss im Dienstalltag zu schaffen: „Die Bagatellgrenze muss abgeschafft werden.“
Aus Sicht des Gewerkschafters gibt es aber noch weitere Baustellen, die dringend beseitigt werden müssen. Dabei geht es auch um Wertschätzung. Der Blick der GdP richtet sich dabei auf das Zulagenwesen, das Laßek zufolge immer noch „auf dem Stand von vor 32 Jahren“ sei. Der Landesverband der GdP spricht diesbezüglich sogar von einem „aberwitzigen Niveau“.
Das trifft insbesondere auf den Nachtzuschlag zu. Der belief sich im Jahr 1992 auf 1,25 DM pro Stunde, aktuell sind es 1,28 Euro - inflationsbereinigt müssten es Laßek zufolge „aber 2,25 Euro“ sein. Ähnlich altbacken sieht die Vergütung bei anderen Diensten zu ungünstigen Zeiten aus, wie es im Behördendeutsch heißt. An Sonn- und Feiertagen waren es seinerzeit 4,25 DM, aktuell wird Arbeit an diesen Tagen mit 3,73 Euro mehr vergütet (inflationsbereinigter Wert laut GdP schon in 2023: 4,01 Euro). An Samstagnachmittagen waren es damals 1,50 DM mehr, aktuell sind es 0,77 Euro (inflationsbereinigt laut GdP: 1,35 Euro).
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„Gerade, wenn man von einer Attraktivitätsoffensive bei der Polizei spricht, darf man keine Zulagen auf dem Niveau von rund drei Dekaden zahlen“, stellt der Polizeigewerkschafter fest. Laßek zielt damit auf das Ziel seines Dienstherren Herbert Reul ab, jährlich 3000 neue Polizeikräfte einzustellen.
In Hessen hat die Landesregierung die Bagatellgrenze per Verordnung aufgehoben. Und die Bundesländer Brandenburg und Rheinland-Pfalz haben aktuell sogar die Zulagen erhöht.