Gelsenkirchen. „Die meisten Kinder befinden sich in einem Schockzustand“: Das erleben Pflegeeltern in Gelsenkirchen – darum werden sie immer häufiger gebraucht.

Ein wacher Blick kommt aus der Babyschale, zu sehen ist nur ein winziges Köpfchen, der Rest liegt warm und wohl verpackt unter einer Decke. Dann ein Lächeln, das über das Gesicht der Kleinen huscht, als Sabine Müller (Name von der Redaktion geändert) sie liebevoll und sanft heraus- und auf den Arm nimmt. Es ist ja eigentlich ein gewohntes Bild – und doch ist hier alles anders. Sabine Müller ist Pflegemutter in der Bereitschaftspflege, gemeinsam mit Astrid Grobe, Vorsitzende des Vereins „Initiative Gelsenkirchener Adoptiv- und Pflegefamilien“, treffen wir sie an diesem Morgen in Bulmke-Hüllen.

Gelsenkirchen: Immer mehr Kinder müssen zu Pflegeeltern

Die beiden Frauen wollen von ihrem Alltag, ihren Herausforderungen berichten, davon, was es heißt, ein Pflegekind in der persönlichen Familien-Mitte aufzunehmen. Das Thema wird umso lebendiger, eindrücklicher, da heute eben auch dieser kleine Mensch erschienen ist. Das fünf Monate alte Baby-Mädchen kann seit kurzem nicht mehr bei seinen leiblichen Eltern leben, musste schnell raus aus der Familie. Der Grund: Verdacht auf akute Kindeswohlgefährdung.

Die Gelsenkirchener Pflegemutter Astrid Grobe hat einen mittlerweile erwachsenen Pflegesohn. Der Bedarf an Pflegestellen in der Stadt ist riesig und steigt kontinuierlich an, sagt das Jugendamt.
Die Gelsenkirchener Pflegemutter Astrid Grobe hat einen mittlerweile erwachsenen Pflegesohn. Der Bedarf an Pflegestellen in der Stadt ist riesig und steigt kontinuierlich an, sagt das Jugendamt. © FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka

21 Kurzzeitpflegestellen gibt es derzeit für das Jugendamt, drei von ihnen bieten eine Bereitschaftspflege an. Insgesamt können 39 Kinder aufgenommen werden, so die Stadtverwaltung auf Nachfrage der Redaktion. Nicht alle Stellen seien direkt in Gelsenkirchen, sondern auch im näheren Umkreis. In der Dauerpflege sind derzeit 404 Kinder untergebracht, allerdings auf unterschiedlichste Formen und Orte verteilt. Von den knapp 400 Inobhutnahmen im vergangenen Jahr wurde etwa ein Viertel der Kinder in Pflegefamilien untergebracht. Darin nicht enthalten seien die Unterbringungen bei geeigneten Personen (etwa im familiären Umfeld des Kindes).

Der Bedarf an Kurzzeit- und Dauerpflegestellen sei stets hoch und steige in den letzten Jahren kontinuierlich, heißt es seitens des Jugendamtes. „Gelsenkirchen braucht viel mehr Unterstützung, der Bedarf ist riesig“, weiß auch Astrid Grobe. „Wir brauchen mehr Förderung“, ergänzt ihre Kollegin Müller.

In diesen Momenten, wenn es schnell gehen muss, dann ist Sabine Müller da, an 24 Stunden und sieben Tagen der Woche. Im 16. Jahr macht sie das schon, das kleine Mädchen ist Kind Nummer 53. Und wenn die 57-Jährige von ihrem Alltag erzählt, dann spricht sie immer im „Wir“. Sie meint damit ihren Mann, die drei gemeinsamen Kinder sind mittlerweile erwachsen. In die Bereitschaftspflege einzusteigen und eben nicht eine Dauerpflege für ein Kind zu garantieren, das sei „unsere Familienentscheidung“ gewesen.

Gelsenkirchener Pflegeeltern: „Die meisten Kinder befinden sich in einem Schockzustand“

Denn Bereitschaftspflege, das muss man wollen. Es geht ja nicht nur um eine kontinuierliche Flexibilität, es geht auch um Gefühle, Emotionen, eine Bindung, die man zu jedem einzelnen Kind aufbaut. „Eigentlich hat man alle Kinder lieb“, sagt Sabine Müller dann auch – und doch haben sie und ihr Mann sich immer bemüht, ein „kleines Eckchen frei zu halten, dass nur für die Familie reserviert ist.“

„Die meisten Kinder befinden sich in einem Schockzustand“, berichtet Sabine Müller von den ersten Momenten, nachdem die Kinder aus den Familien genommen und an eine Pflegestelle übergeben wurden. Teilweise, und das sagt sie auch, ginge es den Kindern in den Familien „richtig, richtig schlecht“. Doch die misshandelten Kinder, sie liebten ihre Eltern, würden sich enorm anpassen, wollten teils möglichst gar nicht auffallen – „das ist häufig ihre einzige Möglichkeit zu überleben“.

Astrid Grobes Sohn kam vor gut 18 Jahren in die Familie, sechseinhalb Monate alt war er da. Er hatte damals gerade zwei Schütteltraumata überlebt und es hätte ihn durchaus mit einer Schwerbehinderung treffen können. Das Kind, es bekam alle Förderung, die möglich und nötig war, „wir haben alle Therapien gemacht, die man machen konnte.“ Es sei auch eine „Riesen-Aufgabe“ gewesen, manchmal kamen Zweifel, „es war teilweise keine einfache Zeit“. Astrid Grobes Sohn ist angekommen, geht seinen Weg, führt das ganz normale Leben eines 19-Jährigen, macht aktuell sogar den Motorrad-Führerschein.

Pflegeeltern in Gelsenkirchen: „Wir haben Platz, wir haben Liebe“

Viel Kraft für ihre tägliche Arbeit, das können beide Pflegemütter bestätigen, gab ihnen der Verein „Initiative Gelsenkirchener Adoptiv- und Pflegefamilien“, dem Astrid Grobe heute vorsitzt. Gegründet im Jahr 1995 versteht sich die Initiative als Lobby und Interessenvertretung für alle Gelsenkirchener Adoptiv- und Pflegekinder sowie für deren Familien. Das Ziel ihres gemeinsamen Wirkens: Vor allem die gegenseitige Unterstützung, aber auch – wie sie es nennen – die „Verbesserung im Adoptiv- und Pflegekinderwesen unserer Stadt“ oder die Information der Öffentlichkeit über Adoptiv- und Pflegekinder.

Und wie gehen die zwei Frauen mit den einzelnen Schicksalen um? Schließlich ist dieser „Rucksack“, wie die beiden es nennen, ja immer dabei, lastet teils schwer auf den Schultern der Kinder. Vielleicht ist es diese Einstellung: „Wir können den Rucksack viel leerer machen, wir haben Platz, wir haben Liebe“, sagt Astrid Grobe. Sabine Müller ordnet sich als Pflegemutter einem „besonderen Menschenschlag“ zu. „Man muss sich abgrenzen können, robust sein“ und schließlich auch wissen: „Es gibt einen Grund, warum die Eltern so sind.“

So ist der Verein erreichbar, so ist das Angebot

Der Verein „Initiative Gelsenkirchener Adoptiv- und Pflegefamilien“ (aktuell sind dort 64 Familien Mitglied) hat verschiedene Angebote für Interessierte: So gibt es einen Gesprächskreis, der beispielsweise am kommenden Dienstag, 7. Februar, in der Zeit von 9.30 Uhr bis 11.30 Uhr ein weiteres Mal stattfindet. Es gibt auch einen Termin am Mittwoch, dann aber abends von 20 Uhr bis 22 Uhr.Außerdem gibt es noch eine Selbsthilfegruppe für Betroffene des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS). Die Treffen sind dienstags von 19.30 Uhr bis 21.30 Uhr. Ein Familienfrühstück gibt es an zwei Terminen im Jahr, einen Kaffeeklatsch ebenfalls zweimal im Jahr. Der nächste Kaffeeklatsch ist für Sonntag, 12. Februar, 15.15 Uhr bis 18 Uhr, angesetzt.Regelmäßig bietet der Verein auch Fortbildungen und Seminare zu allen Themen rund um Adoption und Pflege an.Alle wichtigen und weiteren Informationen sowie die Kontaktdaten sind auf der Homepage des Vereins unter pflegefamilien-ge.de zu finden. Wer in den E-Mail-Verteiler des Vereins aufgenommen werden möchte, schickt eine kurze Nachricht an kontakt@pflegefamilien.de

Dass das Elternwohl noch immer vor das Kindeswohl gestellt werde, für Astrid Grobe und Sabine Müller ist es kaum nachvollziehbar. Dass die Kinder teils wieder an den Ort zurückmüssen, wo sie doch große körperliche und seelische Qualen erlitten haben. „Ich wünsche mir, dass mehr auf die Kinder geachtet werden kann“, sagt Sabine Müller. Astrid Grobe hegt einen weiteren Wunsch: „Dass das Pflegeelternwesen noch mehr in den Fokus gerückt wird.“

Sabine Müller heißt im richtigen Leben anders. Die Bereitschaftspflege läuft inkognito, die Pflegeeltern bleiben für die leiblichen Eltern anonym, da die Kinder meist gegen den Willen der Eltern in Obhut genommen werden.