Gelsenkirchen. Im Frühjahr formulierten Mitarbeitende des Gelsenkirchener Jugendamtes einen drastischen Hilferuf. Die Lage sei nun aber sogar noch schlimmer.

„Es ist zu viel, einfach viel zu viel“, hatte eine Mitarbeiterin des Gelsenkirchener Jugendamtes im Gespräch mit der WAZ gesagt. Zusammen mit weiteren Sozialarbeiterinnen hatte sie sich Ende März entschlossen, mit der Redaktion über „die Missstände im Jugendamt infolge der krassen Unterbesetzung“ zu reden. In der Hoffnung, wenn öffentlich wird, wie es um das Jugendamt „wirklich steht“, würden die Verantwortlichen in Stadtverwaltung und Politik Abhilfe schaffen.

Rund fünf Monate nach dem dramatischen Appell der Mitarbeiterinnen des Jugendamtes, sie würden „nur noch Brände löschen“ und der Warnung, dass das „nicht mehr lange gut gehen werde“, spricht Verdi-Gewerkschaftssekretärin Bärbel Sumagang davon, „dass sich die Situation noch mal dramatisch verschlechtert“ habe.

Verdi Gelsenkirchen: Jugendamtsmitarbeiter sind erbost

Zuletzt hatte der Leiter des hiesigen Jugendamtes, Wolfgang Schreck, auf WAZ-Nachfrage berichtet, dass „Gelsenkirchen vergleichsweise unauffällig ist“, was die Zahl der Inobhutnahmen angeht. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes waren es im vergangenen Jahr 207. Im Jahr davor waren es 211 und 2013 lediglich 151.

Obwohl Schreck die Lage im Jugendamt nicht explizit relativiert hat, ist das bei einigen Angestellten dort offenbar so angekommen. Gewerkschafterin Sumagang berichtet, dass „viele Kolleg*innen des Jugendamtes sehr erbost sind“. Nach ihrer Interpretation sei Schrecks „zentrale Botschaft“ gewesen: „Die Lage ist zwar nicht gut, aber wir kriegen es hin.“ Zum Thema: Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter des Gelsenkirchener Jugendamtes schlagen Alarm.

Verdi-Gewerkschaftssekretärin Bärbel Sumagang
Verdi-Gewerkschaftssekretärin Bärbel Sumagang © Bärbel Sumagang

„Wir teilen die Meinung vieler unserer Mitglieder, dass im Gegenteil das Leiden vieler Kinder in Gelsenkirchen bewusst in Kauf genommen wird und die Sicherheit der schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft hier aufs Spiel gesetzt wird“, formuliert es Bärbel Sumagang drastisch.

Ihr zufolge habe die Stadt in den vergangenen Jahren an der falschen Stelle Personal aufgestockt, als die Verwaltung als Reaktion auf die zahlreichen Beschwerden vieler Bürgerinnen und Bürger über mangelnde Ordnung und Sauberkeit beschlossen hat, den Kommunalen Ordnungsdienst aufzustocken. „Diese Maßnahmen sind sicherlich sinnvoll, aber mal provokant gefragt: Ist die Gefahr des Falschparkens höher zu bewerten als die Sicherheit der Kinder in dieser Stadt?“ Zum Thema:Viele Beschwerden: Gelsenkirchen rüstet Ordnungsdienst auf

Was den Personalmangel und die wachsende Arbeitsverdichtung im Jugendamt angeht, seien zwar „viele kleine Maßnahmen geplant und gut gemeint eingeleitet worden, aber bisher nur mit geringer Wirkung“, so die Gewerkschafterin weiter.

Maßnahmen zur Verbesserung der Situation im Allgemeinen Städtischen Sozialdienst stellten im Frühjahr vor: Oberbürgermeisterin Karin Welge (Mitte), Personaldezernent Luidger Wolterhoff, Jugenddezernentin Anne Heselhaus und Wolfgang Schreck, Leiter des Referats Erziehung und Bildung (nicht auf dem Bild).
Maßnahmen zur Verbesserung der Situation im Allgemeinen Städtischen Sozialdienst stellten im Frühjahr vor: Oberbürgermeisterin Karin Welge (Mitte), Personaldezernent Luidger Wolterhoff, Jugenddezernentin Anne Heselhaus und Wolfgang Schreck, Leiter des Referats Erziehung und Bildung (nicht auf dem Bild). © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

„Die Möglichkeit an Abordnungen ist aus unserer Sicht erschöpft, es steht kein erfahrenes Personal aus anderen Bereichen mehr zur Verfügung. Im Gegenteil: Durch die Art und Weise der Abordnungsregelung wurde die Kündigungswelle bei den Beschäftigten nur noch forciert: Nach unseren Recherchen haben mindestens 13 Kolleg*innen in den vergangenen Wochen ihren Dienst bei der Stadt quittiert. Oder anders ausgedrückt: Ein Viertel der Kolleg*innen hat im ersten Halbjahr 2022 gekündigt. Auf der anderen Seite wurden Lücken in anderen Teams gerissen, Präventionsarbeit blieb mal wieder auf der Strecke“, kritisiert Bärbel Sumagang.

Wie die Stadt Gelsenkirchen auf den Personalmangel im Jugendamt reagiert

Tatsächlich, das bestätigen Jugendamtsleiter Wolfgang Schreck und Dezernentin Anne Heselhaus im Gespräch mit der WAZ, hätten seit Jahresbeginn neun Mitarbeitende aus verschiedenen Gründen gekündigt. „Es ist eben ein Arbeitnehmermarkt. Wer sich heute beispielsweise aufgrund eines Umzugs woanders bewirbt, wird sehr schnell eine neue Stelle finden“, unterstreicht Schreck die Herausforderung der Stadt, Personal zu finden.

„Aber“, so fügt Heselhaus an, „zugleich haben wir seit Jahresbeginn auch 14 neue Kolleginnen und Kollegen einstellen können, drei weitere starten im September und 7,5 Stellen konnten im ASD durch interne Versetzungen besetzt werden.“ ASD steht für Allgemeiner Städtischer Sozialdienst. Darüber hinaus liefen bereits elf weitere Einstellungsverfahren. Außerdem würden die Sozialarbeiterinnen (Schreck: „Es sind fast nur Frauen.“) durch 6,5 Verwaltungskräfte entlastet, die ihnen etwa die Fallprotokollierung erleichtern sollen. Einen ehemaligen Mitarbeiter konnte die Stadt aus dem Ruhestand wieder einstellen, damit er den jüngeren Kräften beratend zur Seite steht. Außerdem wurden Aufgaben wie die Familienberatung in Scheidungsfällen an die Caritas ausgegliedert.

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Schreck und Heselhaus betonen derweil, dass sie um die besondere Herausforderung und Verantwortung wüssten, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im ASD trotz allem zu tragen haben, und dass sie großen Respekt davor hätten. Man versuche alles, diese zu entlasten. Perspektivisch sehen der Amtsleiter und die Dezernentin auch weitere Entlastungen auf die Mitarbeitenden zukommen, wenn die laufenden Einstellungsverfahren abgeschlossen sind. Tatsächlich sind mit Stand Mitte August nur 51,5 der 67,5 Stellen besetzt.

„Selbst bei voller Stellenbesetzung, von der wir weiter leider weit entfernt sind, kann der Kinderschutz in dieser Stadt nicht voll gewährt werden. Dabei explodieren die Fallzahlen je Beschäftigtem nur noch weiter und weiter“, unterstreicht Sumagang indes, was Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter der WAZ auch schon im Frühjahr schilderten. Im Schnitt 75 Fälle türmen sich auf dem Tisch eines jeden Mitarbeiters, bestätigt auch Amtsleiter Schreck. Wobei aber nicht jeder Fall gleich aufwendig sei.

„Im Gelsenkirchener Jugendamt arbeiten zu wenig Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter“

„Der Stellenplan müsste bei den vorliegenden Fallzahlen in Gelsenkirchen eigentlich verdoppelt werden. Davor scheut sich die Verwaltung, da kein Geld da sei. Es wird immer wieder auf Landesregelungen zur Personalbemessung hingewiesen. Eine neue Personalbemessung würde realistisch betrachtet aber erst in etlichen Jahren ihre Wirkung entfalten“, sagt Sumagang. Auch Schreck und Heselhaus wünschen sich landesweit gültige Fallzahlen pro Mitarbeitenden, um den Personalschlüssel gegebenenfalls auf dieser Basis anpassen zu können.

Jugendarbeit mit Beamtenstellen ausweisen, um Attraktivität zu steigern

Der Verweis auf eine Mitverantwortung von Land und Bund befreie aber nicht von der Verpflichtung, die hoheitliche Aufgabe des Kinderschutzes sicherzustellen „und es muss hier und jetzt vor Ort gehandelt werden, um die Situation noch irgendwie zu retten“, mahnt die Gewerkschafterin. Sumagang fordert deshalb, den Vorschlag der Gewerkschaft, die Jugendarbeit mit Beamt*innen-Stellen auszuweisen, endlich ernsthaft in Erwägung zu ziehen, damit der Beruf attraktiver werde.

„Natürlich wissen wir, dass Beamt*innen im Vergleich zu tariflichen Angestellten teurer sind. Aber es gibt genügend Beamt*innen-Stellen in der Kernverwaltung, die unseres Erachtens nicht unbedingt hoheitliche Zwecke erfüllen und mit Angestellten besetzt werden könnten. Hier wäre also eine Umwidmung machbar, um die Jugendhilfe aufzuwerten“, plädiert Sumagang.

„Wir reden Gelsenkirchen nicht schlecht, das schafft die Stadt leider ganz alleine“

Eines zu betonen ist der Gewerkschafterin darüber hinaus noch wichtig: „Da uns in der Vergangenheit vorgeworfen wurde, wir würden Gelsenkirchen ,schlecht reden’, so dass keine neuen Mitarbeiter*innen sich bewerben, möchten wir an dieser Stelle noch mal betonen, dass dem nicht so ist. Das schafft Gelsenkirchen in der augenblicklichen Lage leider ganz alleine. Vielmehr ist es ein lauter Hilfeschrei, der nicht enden darf. Zum Wohle der Kinder in dieser Stadt.“

Tatsächlich hatte OB Welge auch bei einer Pressekonferenz im Mai gesagt, dass Zeitungsberichte, wie der unserer Redaktion, in dem Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter die Missstände und Probleme im Gelsenkirchener Jugendamt offenlegten und in denen Zitate wie „Schlimme Dinge werden passieren“ stehen, keine Hilfe seien, wenn es darum gehe, qualifiziertes Personal nach Gelsenkirchen zu locken. Der Tag der Pressekonferenz war zufällig auch der internationale Tag der Pressefreiheit.