Gelsenkirchen. Die Stadt Gelsenkirchen muss immer häufiger Erziehungshilfe leisten. Um den Bedarf zu decken, werden Standards gesenkt – bei jungen Flüchtlingen.
Unter „erzieherischen Hilfen“ wird laut Bundeszentrale für politische Bildung nicht nur die ambulante Familienhilfe verstanden, auch die Vollzeitpflege in einer anderen Familie oder die stationäre Erziehung in einem Heim wird dazu gezählt. Nimmt man all diese verschiedenen Hilfen zusammen, zeigt sich: Der Bedarf ist in Gelsenkirchen in den vergangenen Jahren enorm gewachsen.
Im Jahr 2015 wurden in der Stadt noch 1360 erzieherische Hilfen gezählt, darunter wurden 201 Kinder stationär in Heimen betreut. Mittlerweile haben sich die Zahlen fast verdoppelt: Mitte 2023 zählte die Stadt bereits 2676 Fälle, wovon 425 auf die Heimerziehung entfallen. Die Konsequenz: Im vergangenen Jahr musste die Stadt fast 60 Millionen Euro für die erzieherischen Hilfen ausgeben, für 2024 wird mit satten 81,2 Millionen Euro kalkuliert.
Neben Faktoren wie grassierender Armut oder Folgen der Corona-Lockdowns sieht die Stadt auch die anhaltende Migration als einen Grund: Das Jugendamt unterstützt auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, von denen derzeit 111 in der Stadt registriert sind.
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„Bei diesen jungen Menschen aus Ländern wie Afghanistan, Syrien oder auch der Ukraine arbeiten wir teils mit Brückenlösungen“, sagt Nicolai Markussian, Abteilungsleiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD). Das heißt: Seit den großen Fluchtbewegungen 2015 ist es den Jugendämtern in Absprache mit dem Landesjugendamt gestattet, von den gesetzlichen Standards bei der erzieherischen Hilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge abzurücken.
Auf Fachkräftemangel im Gelsenkirchener Jugendamt gibt es „keine befriedigende Antwort“
So ist es laut Markussian möglich, die jungen Menschen auch außerhalb von festen Wohnheimen wie dem Kinderheim St. Josef oder St. Elisabeth unterzubringen, beispielsweise in Wohnungen, die als Alternativ-Heime fungieren. „Dort haben sie dann vielleicht kein Einbett-, sondern ein Zweibettzimmer“, erläutert Jugendamtsleiter Wolfgang Schreck ein Beispiel für einen gesenkten Standard. Nötig sei die Ausnahmeregelung, um die jungen Menschen überhaupt versorgen zu können. Eine 24-Stunden-Betreuung sei aber auch dort sichergestellt. Für 20 minderjährige Geflüchtete gibt es gegenwärtig eine „Brückenlösung“.
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Die Standards bei der Betreuung insgesamt zu überdenken, hält Wolfgang Schreck auch für einen Weg, um das System angesichts des Fachkräftemangels nicht kollabieren zu lassen. Als weitere mögliche Hilfsmaßnahme sieht er, Menschen mit anderen Qualifikationen für die erzieherischen Hilfen einzustellen, also auf gut ausgebildete Quereinsteiger fernab der Sozialpädagogik- und Sozialheilkunde zurückzugreifen.
„Die Herausforderung ist aber sehr groß“, sagt er mit Blick auf das fehlende Personal – von der „krassen Unterbesetzung“ im Jugendamt hatten im vergangenen Jahr auch Mitarbeiter des ASD mit der WAZ gesprochen und dabei auf katastrophalen Folgen für Kinder aufmerksam gemacht. Die Stadt reagierte mit neuen Stellen oder Reaktivierung alter Mitarbeiter. Aber wie der eigentlich notwendige weitere Ausbau der Erziehungshilfen angesichts des immer drastischer werdenden Fachkräftemangels auch langfristig erfolgen soll? „Darauf“, so Schreck, „gibt es wohl keine befriedigende Antwort“.