Gelsenkirchen. Das Jugendamt Gelsenkirchen unterstützt immer mehr Familien bei der Erziehung. Was die Pädagogen dort erleben und warum die Zahlen steigen.
- Die Stadt Gelsenkirchen muss immer mehr ambulante erzieherische Hilfen auf den Weg bringen. Die Zahlen haben sich seit 2015 mehr als verdoppelt.
- Dahinter steckt aus Sicht des Jugendamtes nicht nur die steigende Armut, auch gebe es ein wachsendes Anspruchsdenken bei den Familien.
- Die Probleme der Familien sind sehr unterschiedlich – es kann um große Vernachlässigung oder leichtere Erziehungsdefizite gehen.
Ob Eltern verzweifeln, weil sich ihr Kind kategorisch weigert, auch mal etwas Gesundes zu essen, oder ob Kinder so vernachlässigt werden, dass sie im tiefsten Winter nur mit einem T-Shirt in der Schule erscheinen: In beiden Fällen kann der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) des städtischen Jugendamtes aktiv werden. Und beide Fälle können in einer ambulanten Hilfe zur Erziehung münden. Diese Hilfen, bei denen Pädagogen Hausbesuche machen, um Familien in ihrer Erziehung zu unterstützen, steigen in Gelsenkirchen jedes Jahr – und sind mittlerweile einer der wichtigen Faktoren dafür, warum die Stadt schon fast die Hälfte ihrer Gesamtausgaben für Transferaufwendungen ausgeben muss.
Ende 2015 erhielten in Gelsenkirchen 262 Familien erzieherische Hilfen auf ambulantem Wege. Dabei geht es, meist bei kleineren Kindern, vorrangig um das Verhalten der Eltern oder es wird sich, eher bei älteren Kindern, vor allem direkt mit den Jugendlichen auseinandergesetzt – etwa, wenn diese plötzlich Drogen konsumieren oder nicht mehr zur Schule gehen (sogenannte Erziehungsbeistandsschaft). Mittlerweile hat sich die Zahl der ambulanten Hilfen mehr als verdoppelt: Mitte 2023 zählte die Stadt bereits 662 Fälle. „Bei etwa einem Drittel dieser Fälle wurde zuvor ein Verfahren zur Einschätzung für die Kindeswohlgefährdung durchgeführt“, sagt Nicolai Markussian, Abteilungsleiter des ASD.
Dabei prüft das Fachpersonal des Jugendamtes systematisch, wie problematisch die Lage des Kindes ist. Es geht um Fragen wie: Hat das Kind kariöse Milchzähne? Geht es stets mit zu kleinen Schuhen in die Kita? Und bekommt es zu Hause ein Frühstück? Die Gefährdungseinschätzung ist laut Markussian ein Indikator dafür, dass die Hilfe zur Erziehung nicht aus Eigeninitiative der Eltern beantragt wurde, sondern ein Dritter auf die Notsituation der Kinder aufmerksam gemacht hat. „Bei vielen anderen Fällen werden die Eltern, etwa von einer Erzieherin, darauf aufmerksam gemacht, dass es Hilfen zur Erziehung gibt – bis sie sich dann selbst bei uns melden.“
Jugendamt Gelsenkirchen: Probleme werden sichtbarer
Die gestiegenen Fallzahlen können schnell dazu verleiten, ein düsteres Bild der gegenwärtigen Gesellschaft zu malen. Wolfgang Schreck, Leiter des Gelsenkirchener Jugendamtes, betrachtet die Statistik aber nicht mit bloßem Pessimismus. „Man sagt schnell, es sei alles viel schlimmer geworden. Aber wir machen auch viel mehr sichtbarer als früher“, betont er.
Das Netz aus Kinderarztpraxen, Schulen, Kitas und weiteren Einrichtungen funktioniere heutzutage besser – also die Zusammenarbeit jener Stellen, die dem Jugendamt einen Hinweis geben, dass es einem Kind daheim nicht gut geht. Zudem gebe es mehr Eltern, die den seit Anfang der Neunziger geltenden Rechtsanspruch auf erzieherische Angebote nutzen, also von alleine auf das Jugendamt zugehen, weil sie Probleme haben „Es gibt heutzutage eine kleinere Barriere, sich zu melden“, beobachtet Schreck. „Wir sehen ein wachsendes Anspruchsdenken der Familien.“
Woraus der scheidende Behördenleiter aber auch keinen Hehl macht: Es gebe da natürlich auch das Problem der weit verbreitetenden und steigenden Armut in Gelsenkirchen, das mit der steigenden Fallzahl zusammenhängt. Wer am Existenzminimum nagt, könne leichter mit der Gesamtsituation überfordert sein – die dann wiederum in Vernachlässigung des Kindes resultieren könne. „Es gibt gesamtgesellschaftlich aber auch eine größere Verunsicherung, was Erziehung angeht“, nennt Schreck einen weiteren möglichen Grund für die gestiegenen Fallzahlen. Und: „Es erodieren weitaus mehr Familien als früher.“ Auch bei Kindern aus geschiedenen Familien gebe es mehr Probleme.
Wird eine Familie ambulant von einem Träger der Wohlfahrtspflege betreut (die Stadt selbst führt die Betreuung nicht durch), dann ist eine Fachkraft durchschnittlich 17 Stunden im Monat vor Ort und begleitet den Alltag. Diese Besuche, sagt Schreck, könne man sich dann durchaus vorstellen wie bei der „Super Nanny“ im TV. „Nur hatte man da den Eindruck, mit drei Runden auf der ,stillen Treppe’ sei alles erledigt. So ist es sicher nicht“, sagt der Amtsleiter. „Die sozialpädagogische Familienhilfe ist harte Arbeit und anstrengend für die Familien.“ Deswegen werde eine Familie in der Regel rund zwei Jahre betreut.
„In manchen Familien geht es darum, erst einmal zu zeigen, wie man putzt“
Nicolai Markussian, heutiger ASD-Leiter, hat früher selbst Familien zu Hause betreut und weiß, welche Probleme es gibt: „In manchen Familien geht es auch darum, erst einmal zu zeigen, wie man die Wohnung richtig putzt, damit es keine Gefährdung wegen mangelnder Hygiene gibt“, erklärt er. Auch erinnert er sich an Situationen, in denen sich ein dreijähriges Kind nicht von einem „Lass das!“ seiner Mutter abhalten ließ, eine Vase in die Hand zu nehmen. Die Mutter habe dann damit schon beweisen wollen, dass die Erziehung nicht fruchtet. Dass es nicht einfach immer reiche, einem Dreijährigen zuzurufen, sondern man auch mal zu ihm hingehen müsse, sei der Frau nicht in den Sinn gekommen.
Zu derartigen Beispielen ärgerlicher, aber nicht ganz drastischer Erziehungsdefizite gesellen sich die ganz großen Probleme – verwahrloste Kinder etwa, die, wenn überhaupt, nur hungrig oder in dreckigen Anziehsachen in der Schule erscheinen, möglicherweise sogar daheim körperliche Misshandlung erfahren, wie Wolfgang Schreck es skizziert. Ist die Gefährdung so groß, dass die ambulante Hilfe nicht mehr ausreicht, werden die Kinder von ihren Eltern getrennt und beispielsweise in einem Heim betreut. Auch hier sind die Fallzahlen deutlich gestiegen. Lesen Sie mehr hier: Nur bei Flüchtlingen: Standards für Erziehungshilfe gesenkt