Essen. Die Zahl der Wohnungslosen in Essen hat ein Rekordhoch erreicht. Das Jobcenter berät sie in einer besonderen Sprechstunde. Wie ihnen das hilft.

Wenn die Menschen nicht zu uns kommen, kommen wir zu ihnen: Auf diese Formel lässt sich ein ungewöhnliches Angebot des Essener Jobcenters verdichten: Seit zwei Jahren bieten die Berater eine Sprechstunde im Diakoniezentrum Mitte in der Innenstadt an, die sich an wohnungslose Menschen wendet. Eine Erfolgsgeschichte. Oder wie es Jobcenter-Leiter Dietmar Gutschmidt formuliert: „Diese Zusammenarbeit ist auf fruchtbaren Boden gefallen.“

Allzeithoch bei der Zahl der Wohnungslosen in Essen

Dass die Zahl der Menschen ohne Wohnung auch in Essen zunimmt und viele der Betroffenen Anspruch auf Bürgergeld haben, ist im Jobcenter bekannt. „Nur finden sie oft nicht den Weg zu uns“, sagt Gutschmidt. „Denn dafür müssten sie erst telefonisch oder per Mail einen Termin vereinbaren.“ Das gelinge vielen nicht.

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Also ging man auf das Diakoniewerk zu, das an der Lindenallee eine Wohnungslosenberatung anbietet und den Betroffenen gleichzeitig eine Adresse gibt: Sie können sich hier anmelden, um zum Beispiel Post von Ämtern bekommen oder Leistungen beziehen zu können: Im Laufe des vergangenen Jahres waren fast 2000 Essener und Essenerinnen (zeitweise) an der Lindenallee gemeldet. Das sei ein Allzeithoch, sagt der zuständige Geschäftsbereichsleiter des Diakoniewerks Volker Schöler. „Binnen zwei Jahren ist die Zahl um knapp 50 Prozent gestiegen.“ Die Lindenallee ist ihre Postadresse, das Team des Diakoniewerks ist ihnen vertraut: Darum bietet das Jobcenter ihnen hier seit März 2023 eine Beratung an.

Viele Wohnungslose stammen aus Osteuropa

Wohnungslosigkeit hat viele Gesichter und bedeutet keineswegs immer, dass die Betroffenen auf der Straße leben oder in Notschlafstellen übernachten. Manche der gut 2000 Wohnungslosen in Essen kommen (zeitweise) bei Freunden, Verwandten oder Partnern unter.

Die einen geraten nach Wohnungsbrand, Wasserschaden oder einer Trennung nur kurz in die Notlage und finden bald wieder ein Zuhause. Andere sind seit zehn Jahren ohne Wohnung und mittlerweile ohne Hoffnung. Petra Fuhrmann, die die Ambulante Gefährdeten- und Wohnungslosenhilfe des Diakoniewerks leitet, hat Menschen erlebt, die von der Notschlafstelle jeden Tag zur Arbeit gehen, und solche, die jeden Halt verloren haben: Sie kämpfen mit Schulden, Krankheit, Sucht und psychischen Problemen. „Die brauchen zum Beispiel erst Suchtberatung und Entwöhnung, bevor sie über Wohnungs- und Jobsuche nachdenken können.“

Eine wichtige Rolle spiele die Gemeinwohlarbeit (Ein-Euro-Job), die Tagesstruktur und Anerkennung biete. „Wir haben Leute, die sich in der Möbelbörse richtig auspowern oder dankbar sind, im Diakonieladen helfen zu können. Manche kommen sogar weiter, wenn die Maßnahme beendet ist“, sagt Volker Schöler, zuständiger Geschäftsbereichsleiter beim Diakoniewerk.

Insgesamt sind gut 28 Prozent der Wohnungslosen nicht-deutscher Herkunft. Viele kämen mit großen Erwartungen, aber ohne Sprachkenntnisse und berufliche Qualifikation aus Osteuropa hier her. Teils würden sie von falschen Versprechungen angelockt und landeten in prekären Jobs. Man helfe Betroffenen bei der Rückkehr ins Heimatland, doch viele schämten sich ihres Scheiterns oder sagten: „Zu Hause ist es noch schlimmer.“ Hier gebe es zumindest Angebote wie Suppenküche und Kleiderkammer.

Die Idee ist nicht ganz neu, im Rahmen der Quartiersarbeit hat sich das Jobcenter auch in anderen Stadtteilen Kooperationspartner gesucht: „Wir verzahnen unsere Beratung mit Angeboten vor Ort“, sagt Gutschmidt und nennt beispielhaft das Ukraine-Café in Werden, mit dem man ukrainische Zuwanderer erreiche. Bleibt das Interesse aus, beende man das Angebot. Im Diakoniezentrum gab es Startschwierigkeiten, denn anfangs sollten die Betroffenen auch hier Termine vereinbaren. „Das hat nicht geklappt“, räumt Gutschmidt ein. Also gibt es nun jeden zweiten Dienstag eine offene Sprechstunde von 9 bis 12 Uhr an, nächster Termin ist der 18. Februar. Kurzer Weg, leichter Zugang: Nun klappt‘s. Nach 45 Ratsuchenden im Jahr 2023, kamen im vergangenen Jahr schon 93.

618 Essener und Essenerinnen ohne Wohnung beziehen Bürgergeld

Insgesamt erhalten heute 618 der Essener Wohnungslosen Bürgergeld. Ein wichtiger Schritt für die Betroffenen, sagt Gutschmidt: „Wir stabilisieren die Menschen, verankern sie in der Gesellschaft.“ Konkret macht das Frau Tonndorf, die in diesem Artikel gern ohne Vornamen auftreten möchte. Sie ist Arbeitsvermittlerin und gehört zu dem Team, das an der Lindenallee berät. Regelmäßig sind dort Menschen, die sich bang fragen: „Was will das Jobcenter von mir?“ Sie verzweifeln an einer „Aufforderung zur Mitwirkung“ und fürchten die Frage nach einer Bankverbindung. „Dabei können sie ruhig sagen, dass sie keine Bankverbindung haben, dann bekommen sie Leistungen per Scheck“, sagt Tonndorf.

Für die Betroffenen sei es nicht leicht, solche Dinge am Telefon zu erklären. Dass da ein Mensch sitze, der ihnen in die Augen schaue und erkläre, was als nächstes zu tun sei, bedeute für viele der Wohnungslosen einen echten Mehrwert, hat Tonndorf festgestellt. „Wir erfahren auch eine gewisse Dankbarkeit.“

Angst vor dem Amt: Betroffene legen Behördenpost beiseite

Frau Tonndorf bringt ihren Dienst-Laptop mit in die Außensprechstunde, kann zum Stand von Anträgen Auskunft geben. Möchte sie ein Dokument ausdrucken, nutzt sie den Drucker vor Ort. Sie erklärt die Spielregeln fürs Bürgergeld, etwa, dass man in der Lage sein muss, mindestens drei Stunden pro Tag, 15 in der Woche, zu arbeiten. Davon gehe man in der Regel aus, geprüft wird nur in Zweifelsfällen.

„Wir können den Menschen hier die Angst nehmen“, sagt Sozialarbeiterin Vanessa Thiele, die als Beraterin beim Diakoniezentrum arbeitet. „Unsere Klientel hat überwiegend Probleme mit Behörden, vor allem mit der Post vom Amt.“ Kommt ein Formular, das sie ratlos macht, wird der Brief beiseitegelegt. „Jetzt können wir ihnen anbieten, direkt ins Jobcenter zu gehen, hier vor Ort.“ Dort machten die Betroffenen die Erfahrung, dass sich die Sachen sortieren, dass sie plötzlich Krankenversicherung und Lebensunterhalt haben. „Sie werden gehört und gesehen, stellen fest: Manches ist einfacher als gedacht.“

So verlasse mancher die Beratung mit dem Gefühl, selbstständig etwas geregelt zu haben: „Das motiviert die Leute.“ Wer vorher keine Chance auf dem angespannten Wohnungsmarkt gesehen habe, traue sich vielleicht doch zu, eine Wohnung zu finden, wenn er erst Bürgergeld bekomme. Die viel diskutierte Leistung habe neben der arbeitsmarktrechtlichen eben auch eine gesellschaftliche Funktion, stütze die Menschen. Der Weg in Arbeit sei weit, gewiss gebe es auch Missbrauch, aber: „Wir unterscheiden immer zwischen nicht wollen – und nicht können.“

Manchmal wird es in der Beratung laut, manchmal fließen Tränen

Die vielfach belastete Klientel werde mit Hilfen von Psychosozialer Beratung bis Schuldnerberatung begleitet. „Wir verbessern erstmal die Lebenssituation, und dann folgen Wohnungs- und Jobsuche“, sagt Gutschmidt. Die Beratung sei mitunter sehr emotional, erzählt Frau Tonndorf: „Von Tränen bis, dass es mal laut wird, ist alles dabei.“ Sie habe Verständnis für Wut, Verzweiflung und Resignation: „Es belastet ja auch extrem, wenn man wohnungslos ist. Für die Klientel gilt nicht, dass sie aus Bequemlichkeit Leistungen beziehen.“

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