Essen. Noch nie gab es in Essen so viele Menschen ohne feste Bleibe wie jetzt. Als Ursache für die hohe Wohnungslosigkeit gelten vor allem zwei Gründe.

Die Zahl der Menschen in Essen ohne eigene Wohnung erreicht in diesem Jahr einen neuen Höchststand. Das sagen Experten von Caritas und Diakoniewerk voraus. Die Anzahl der Betten in den Essener Not-Unterkünften für Männer, Frauen und Jugendliche wurde zuletzt bereits erheblich vergrößert, doch die Schlaf-Stellen geraten regelmäßig an ihre Kapazitätsgrenzen.

„Im ersten Halbjahr 2024 haben wir rund 20 Prozent mehr Menschen beraten als im Vorjahreszeitraum“, sagt Volker Schöler vom Diakoniewerk, das die zentrale Beratungsstelle für Wohnungslose in der Lindenallee (Innenstadt) betreibt. „Und wer sich beraten lässt, bei dem ist das Kind in der Regel schon in den Brunnen gefallen.“ Im Jahr 2023 verzeichnete man knapp 1800 Beratungsfälle, das waren bereits 20 Prozent mehr als im Jahr 2022.

Wer keine Wohnung mehr hat, lebt noch lange nicht auf der Straße

Die Zahlen lassen den Schluss zu, dass es derzeit rund 2.000 Menschen in Essen gibt, die keine eigene Wohnung haben. Das heißt nicht, dass sie obdachlos sind und auf der Straße leben. „Viele kommen eine Zeitlang bei Freunden oder Verwandten oder eben in den Not-Unterkünften“, sagt Tanja Rutkowski, die Leiterin des Fachbereichs „Gefährdetenhilfe“ bei der Caritas-SkF. Viele gingen von dort auch noch zur Arbeit, versuchten, so lange wie möglich geheimzuhalten, dass sie keinen festen Wohnsitz mehr haben.

Die „enorme Dynamik“ der Zahlen, so Caritas-Direktor Björn Enno Hermans, betrachte man mit Sorge. Allein der „Raum 58“, die Notschlafstelle für Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren, hatte im Monat August mit 147 Prozent die „höchste Auslastung seiner 23-jährigen Geschichte“, berichtet Hermans. Dort wurde im Sommer bereits ein Container vors Gebäude gestellt, um weitere vier Betten anzubieten und die Zahl der Schlafplätze somit auf zwölf zu erhöhen.

Auch im Sommer blieb die Zahl der Übernachtungen in Notschlafstellen hoch

Die Sozialeinrichtungen verzeichneten bundesweit den Trend, dass die Zahl der Übernachtungen in Notschlafstellen trotz des sommerlichen Wetters derzeit nicht mehr sinkt - anders als in den Vorjahren. Warum die Zahl der Wohnungslosen in Essen und anderswo seit Jahren steigen, begründen die Experten so: „Es sind Corona-Spätfolgen“, sagen Volker Schöler und Tanja Rutkowski. Während der Corona-Jahre hätten die Ämter auf Räumungsklagen verzichtet. Diese nicht vollzogenen Räumungsklagen würden jetzt reihenweise vollstreckt, das führe zu dem hohen Anstieg der Zahl an Menschen, die kein eigenes Zuhause mehr haben.

Der zweite, wichtige Grund, der sich in Essen genau wie in anderen Städten bemerkbar mache: „Es gibt immer weniger kleine und günstige Wohnungen“, sagen Rutkowski und Schöler. Der großen Zahl von Beratungen für akut Betroffene steht die vergleichweise geringe Zahl von gerade mal 159 erfolgreichen Vermittlungen im ersten Halbjahr 2024 gegenüber: So vielen Menschen konnte von Januar bis Juni eine neue Bleibe vermittelt werden, „was eigentlich eine gute Quote ist“, so Hermans.

„Tag der Wohnungslosen“: Aktion auf der Kettwiger Straße

Jenseits aller aktuellen Entwicklungen versuchen die Sozialverbände in Deutschland jährlich, mit dem „Tag der Wohnungslosen“, grundsätzlich auf das Problem aufmerksam zu machen. „Es kann jeden treffen, und es geht ganz schnell“, betont Volker Schöler. Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit und Trennung beziehungsweise Scheidung sind häufige Anlässe, mit denen der Weg in die Wohnungslosigkeit beginnt.

Der „Tag der Wohnungslosen“ wird auch in Essen begangen: Am Mittwoch, 11. September, gibt es Aktionen auf der Kettwiger Straße in Höhe des Doms. Passanten sollen zum Nachdenken angeregt werden – durch persönliche Geschichten von Betroffenen, die auf großen Tafeln erzählt werden, oder durch Mitmach-Aktionen: So soll man selbst in einem Mülleimer wühlen, in dem – gesäuberter – Unrat liegt, um Pfandflaschen oder anderes zu finden, das ein paar Cent wert ist. Außerdem können Bürgerinnen und Bürger einen Rucksack packen mit allem, von dem sie glauben, was man braucht für ein Leben auf der Straße. „Die Bürgerinnen und Bürger sollen sensibilisiert werden, denn das Thema ist in der Öffentlichkeit kaum sichtbar“, sagen Volker Schöler und Tanja Rutkowski. „Den allermeisten Menschen sieht man nicht an, dass sie keine feste Bleibe mehr haben.“

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