Essen. Sexuelle Belästigung ist erst seit 2016 eine Straftat. Fälle aus Essen zeigen, wo das Risiko hier in der Stadt besonders hoch ist.
Eine junge Frau (22) steigt an einem Nachmittag in die S-Bahn von Bottrop zum Essener Hauptbahnhof. Sie nimmt auf einer Sitzbank Platz. Ein Mann setzt sich genau gegenüber. Einige Minuten vergehen. Dann sieht die Frau: Der Mann hat seine Hose geöffnet. Zwei Tage später geht sie zur Polizei und zeigt den Unbekannten an. Sie kann ihn relativ genau beschreiben. Die Polizei sucht Zeuginnen und Zeugen. Wenn der Mann erwischt wird, droht ihm eine Strafanzeige.
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Der Vorfall von Ende Oktober 2024 scheint ein recht typischer Fall zu sein. Sexuelle Belästigung kann theoretisch überall vorkommen: im Büro, an der Uni, im Sportverein, auf Festivals oder abends im Club. Die meisten Fälle, von denen die Polizei erfährt, passieren jedoch auf der Straße und im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs. Das bestätigt Polizeisprecherin Sylvia Czapiewski auf Anfrage dieser Redaktion. Sie ergänzt: „Übergriffe am Arbeitsplatz und in Kneipen finden ebenfalls statt, allerdings in deutlich geringerer Anzahl.“
Sexuelle Belästigung: Fälle am Essener Hauptbahnhof
Das ungute Gefühl, das vor allem Frauen kennen dürften, wenn sie im Bahnhofsgedränge oder abends in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind, ist offenbar nicht unberechtigt. Erkenntnis der Polizei ist allerdings auch: Die angezeigten Fälle sexueller Belästigung passierten überwiegend tagsüber.
Einige weitere Beispiele aus Polizeiberichten der Jahre 2024 und 2023: Eine junge Frau (22) ist abends am Essener Hauptbahnhof unterwegs. Ein Mann mittleren Alters fasst ihr an den Po. Die Frau spricht eine Streife des Bundespolizei an. Wenig später wird ein Tatverdächtiger (47) am Bahnsteig festgenommen und Material der Überwachungskameras ausgewertet.
Ein 14-jähriger Junge düst auf einem E-Scooter an einer Außengastronomie auf dem Viehofer Platz vorbei und schlägt einer jungen Frau, die dort kellnert, auf den Po. Es entwickelt sich ein großer Streit mit Beschimpfungen und körperlichen Attacken.
Eine 24-Jährige will morgens gegen neun Uhr im Essener Hauptbahnhof in einen Regionalzug steigen. Auf der Treppe begrabscht sie ein junger Mann am Gesäß und im Intimbereich, später zieht er sogar seine Hose herunter. In diesem Fall gibt es Videobilder, auf denen der Verdächtige gut erkennbar ist.
Erst 2016 ins Strafgesetzbuch aufgenommen
Sexuelle Belästigung durch körperliche Berührung, Angrabschen, ist eine Straftat. Aber erst seit 2016. Im Zuge einer Verschärfung des Sexualstrafrechts, bei der auch der Tatbestand der Vergewaltigung neu formuliert wurde (“Nein heißt Nein“), wurde § 184i ins Strafgesetzbuch eingefügt. Dem Täter drohen eine Geldstrafe oder bis zu zwei Jahre Gefängnis. In besonders schweren Fällen, wenn beispielsweise eine ganze Gruppe übergriffig wird, drohen Freiheitsstrafen von drei Monaten bis zu fünf Jahren.
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Laut polizeilicher Kriminalstatistik wurden 2023 in Essen insgesamt 187 Fälle sexueller Belästigung angezeigt, etwa alle zwei Tage einer. Es waren fast 17 Prozent mehr als im Jahr zuvor. 135 der Fälle wurden aufgeklärt, das sind mehr als 72 Prozent. „Aufgeklärt“ heißt im Sinne der Kriminalstatistik aber nur, dass ein Tatverdächtiger persönlich ermittelt werden konnte. Die weibliche Form erübrigt sich hier nahezu. 97,1 Prozent der Verdächtigen sind Männer. 91,2 Prozent der Opfer sind Frauen oder Mädchen. Mehr als 40 Prozent der Tatverdächtigen sind nichtdeutsch. Oft ist auch Alkohol im Spiel: Fast jeder fünfter Verdächtige (18,4 Prozent) war angetrunken.
Staatsanwaltschaft Essen: Viele Tatverdächtige werden verurteilt, meist zu Geldstrafen
Wie viele der Verdächtigen am Ende tatsächlich vor Gericht landen, dazu gibt es keine statistischen Daten. Ermittlungsverfahren wegen des Tatvorwurfs sexueller Belästigung würden nicht gesondert erfasst, teilt Dr. Leif Seeger, Sprecher der Staatsanwaltschaft Essen, auf Anfrage mit. Er ergänzt jedoch: „Eine hohe Quote der polizeilich aufgeklärten Vorfälle zeigen wir an. Und in vielen Fällen werden die Tatverdächtigen auch verurteilt, meist zu einer Geldstrafe.“
Was aus der Kriminalstatistik aber deutlich hervorgeht: In den meisten Fällen (58,9, Prozent) werden Frauen oder Mädchen von Fremden belästigt. „Keine formelle Beziehung“ gibt es zwischen Opfer rund Tatverdächtigem. In etwa jedem fünften Fall (20,6 Prozent) besteht eine „flüchtige Bekanntschaft“, in knapp jedem zehnten (9,7 Prozent) bewegt man sich in der selben Institution. Erkenntnis der Polizei ist allerdings auch: Die angezeigten Fälle sexueller Belästigung passierten überwiegend tagsüber.
Seit sexuelle Belästigung überhaupt als Straftat angezeigt werden kann, sind die Fallzahlen in Essen gestiegen, aber nicht kontinuierlich. 2021 etwa knickt die Kurve deutlich ein (siehe Grafik), vermutlich wegen der Corona-Pandemie, die das öffentliche Leben zeitweise lahm legte. Seit 2021 sieht man einen stetigen Anstieg der erfassten Fälle.
Polizei Essen: Videoüberwachung ermutigt Betroffene, Übergriffe anzuzeigen
Die Polizei geht davon aus, dass sich Betroffene inzwischen deutlich häufiger entscheiden, Anzeige zu erstatten, wenn sie belästigt und begrabscht wurden. Vor allem durch die Zunahme an Videoüberwachungen ließen sich Verdächtige häufiger identifizieren, erklärt eine Polizeisprecherin, was Geschädigte ermutige, Vorfälle anzuzeigen. Nach Einschätzung von Essener Polizeiexperten für Prävention und Opferschutz könnte auch die starke Thematisierung von sexueller Gewalt gegen Frauen in sozialen Medien eine Rolle spielen: „Unter anderem die Reichweite von Influencerinnen, betroffenen Personen des öffentlichen Lebens, TikTok, Youtube, Podcasts etc. ermutigen Frauen, Straftaten anzuzeigen.“
Auf die neuesten Zahlen für 2024 darf man daher gespannt sein. Aktuell liegen sie noch nicht vor, sondern werden erst im Frühjahr im Zusammenhang mit der Polizeilichen Kriminalstatik veröffentlicht.
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