Essen. Fall an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen sorgt für Aufsehen. Expertin: Unsicherheit und Abhängigkeit führt die Opfer in die Falle.
Der Fall eines Professors der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen, der über Jahre Studenten bedrängt und teils sexuell belästigt haben soll, sorgt derzeit für Aufregung. Nach einer internationalen Studie hat fast ein Drittel aller Studierenden und Mitarbeitenden im Studium oder bei der Arbeit sexuelle Belästigung erlebt, ergab eine internationale Umfrage mit mehr als 40.000 Befragten des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften (Gesis) in Köln im Jahr 2022. Demnach suchen nur sieben Prozent der Studierenden, die sexuelle Übergriffe erlebt haben, anschließend Hilfe. Über die Gründe für das Schweigen der Betroffenen und wie Hochschulen damit umgehen sollten, sprach Christopher Onkelbach mit Gesis-Wissenschaftlerin und Studienautorin Dr. Anke Lipinsky.
Warum melden sich betroffene Studierende nicht, wenn sie sexuelle Belästigung erfahren haben?
Anke Lipinsky: Das ist ein Grundproblem bei geschlechterbezogenen Gewalt an Hochschulen. Viele geben an, dass sie nicht wussten, an wen sie sich wenden können. Zudem stehen Studierende oft in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Professor oder ihrer Professorin. Oft hängt ja der Studienerfolg von dieser Person ab. Zudem gibt es häufig eine große Unsicherheit darüber, was eigentlich vorgefallen ist. War das schon eine Belästigung oder stelle ich mich nur zu sehr an?
Den Betroffenen ist nicht klar, ob sie einen sexuellen Übergriff erlebt haben?
Das ist häufig so. Die Bewertungsunsicherheit bei einem Vorfall ist häufig sehr groß. Nicht immer ist die Situation sofort klar, auch wenn ein komisches Gefühl bleibt. War die Umarmung jetzt kumpelhaft gemeint oder ging das schon zu weit? Man will ja kein Spielverderber sein oder die Atmosphäre am Lehrstuhl belasten.
Welche Strukturen begünstigen sexuelle Übergriffe?
In hierarchischen Beziehungen befinden sich Personen in mehrfachen Abhängigkeiten, da müssen wir uns nichts vormachen. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind meist befristet beschäftigt. Wenn sie einen Übergriff melden oder publik machen, riskieren sie, dass ihr Vertrag nicht verlängert wird. Das ist eine klare ökonomische Bedrohung ihrer Situation. Manche Studierende haben sich bewusst für dieses Fach an dieser Hochschule und mit diesem spezialisierten Schwerpunkt entschieden. Da stellt sich rasch die Frage, ob man das aufs Spiel setzen will.
Geht es dabei immer um sexuelle Übergriffe?
In unserer Umfrage haben wir unterschiedliche Formen von geschlechterbezogener Gewalterfahrung untersucht: körperlich, sexuell, psychologisch oder wirtschaftlich sowie Online-Formen von sexueller Gewalt. Dabei fiel auf, dass Betroffene sexuelle Belästigung oft mehrfach erleben. Das ist bei körperlicher Gewalt nicht so.
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Was ist der Grund dafür?
Wir werten unsere Daten dazu aktuell noch aus. Zwei Faktoren scheinen eine wichtige Rolle zu spielen. Körperliche Gewalt findet häufig innerhalb derselben Statusgruppe statt, beispielsweise eine Rauferei unter Studenten. Bei sexueller Belästigung ist das nicht so. Diese Gewaltform finden wir unter Studierenden aber genauso von Beschäftigten gegenüber Studierenden. Meistens sind junge Frauen und nichtbinäre Menschen die Zielpersonen.
Was können die Hochschulen unternehmen, um Studierende vor sexualisierter Gewalt zu schützen?
Die Unsicherheit vieler Betroffenen müssen die Institutionen als Appell verstehen, etwas zu unternehmen. Dozenten und Dozentinnen müssen eine Vorbildfunktion wahrnehmen und es muss eine klare Kommunikation seitens der Hochschule geben, welche Regeln gelten, welches Verhalten in Ordnung ist oder welches nicht mehr. Und die Studierenden sowie die Beschäftigten müssen wissen, an wen sie sich mit ihren Fragen oder Beschwerden wenden können. Das sollte am besten bereits auf den Einführungsveranstaltungen zum ersten Semester vermittelt werden.
Welche Beratungsangebote gibt es an Hochschulen?
Für Studierende ist das sehr unterschiedlich geregelt. An großen Hochschulen können sie sich häufig an den Asta oder eine psychosozialen Beratung wenden. Zuständig wären auch Vertrauens-Dozenten und -Dozentinnen sowie Gleichstellungsbeauftragte. Grundsätzlich aber haben die Hochschulen angesichts der geringen Zahl von Betroffenen, die sich von sich aus melden, eine Bringschuld. Sie müssen mehr Unterstützungs-, Beratungs- und Hilfsangebote anbieten. Es geht letztlich um eine Kulturveränderung an den Hochschulen. Alle Beteiligten müssen lernen, hinzuschauen und zu helfen.
Welche Auswirkungen kann das Erlebnis sexueller Übergriffe haben?
Das haben wir in unserer Umfrage ebenfalls erhoben. Danach schilderten Betroffene durchgängig Einschränkungen beim psychosozialen Wohlbefinden. Sie fühlen sich sozial isoliert, manche klagen über Kopf- oder Bauchschmerzen sowie Unwohlsein. Sie sind unzufrieden mit ihrem Studium, ziehen sich zurück, reden nicht mehr mit Kommilitonen, schweigen. Manche wollen ihr Studium sogar abbrechen. Und die persönlichen und sozialen Kosten eines Studienabbruchs tragen die Betroffenen am Ende allein.
>>>> Die internationale Umfrage
62 Prozent der Befragten gaben bei der Umfrage im Rahmen des Gesis-Projekts an, eine Form von geschlechterbezogener Gewalt erlebt zu haben. 57 Prozent berichten von psychologischer Gewalt, wie Drohungen oder Wutausbrüche. 31 Prozent berichten von sexueller Belästigung, sechs Prozent von körperlicher Gewalt, drei Prozent von sexueller Gewalt.
In der Studie wurden körperliche, sexuelle, psychologische, wirtschaftliche und Online-Formen geschlechtsbezogener Gewalterfahrungen erfasst. Die Umfrage an 46 Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Deutschland und 14 weiteren europäischen Ländern wurde Ende 2022 veröffentlicht.