Essen-Werden. Der Essener Verein „Das Dorf“ ist Anlaufstelle für Familien mit Hochbegabten aus der Rhein-Ruhr-Region. Wie dort auf Probleme eingegangen wird.

„Um ein Kind großzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Von diesem afrikanischen Sprichwort leitet sich der Name des Vereins „Das Dorf“ ab, der in einem Altbau an der Straße Wesselswerth in Essen-Werden sein Domizil hat. Er sieht sich als Beratungs- und Begegnungsstätte, in der Gleichgesinnte aufeinander treffen, die vor allem ein Thema verbindet: Hochbegabung.

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„Unser Ziel ist es, ein Ort zu sein, an dem Menschen Verbundenheit erleben, sich verstanden fühlen und voneinander profitieren“, sagt die Vereinsvorsitzende Elisabeth Backes. Denn nur allzu oft erlebten Kinder und Jugendliche, die sich „anders“ verhielten und nicht ins gängige „System“ passten, großes Unverständnis. „Es gibt halt Menschen mit einer besonderen Sensibilität. Wo andere eine Antenne haben, besitzen sie 25. Sie nehmen alles auf, können es aber erst gar nicht einordnen und sind dann oftmals überfordert“, erläutert Backes.

Mädchen ziehen sich zurück, Jungen spielen den Klassenclown

Was für junge Menschen häufig zu Problemen in der Schule führen könne, weiß die Mutter von drei Töchtern, die selbst als Pädagogin an verschiedenen Schulformen Erfahrungen gesammelt hat. Während Mädchen sich in einer solchen Situation eher zurückziehen würden und ihre Fähigkeiten (vor allem in der Pubertät) sogar verleugneten, „zeigen Jungen Auffälligkeiten im Verhalten, spielen zum Beispiel den Klassenclown oder werden sogar aggressiv“, sagt die 54-Jährige.

Elisabeth Backes (l.) und Rebecca Eggeling bieten Familien mit Hochbegabten Unterstützung an.
Elisabeth Backes (l.) und Rebecca Eggeling bieten Familien mit Hochbegabten Unterstützung an. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Schnell sei dann die Rede von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) oder Autismus, ergänzt Andrea Steinforth. Die 59-Jährige ist als beratende Psychologin für den Verein tätig: „Mit solchen Diagnosen verbinden sich viele leidvolle Geschichten, weil eine Hochbegabung nicht erkannt und das Anderssein falsch interpretiert wurde.“

„Mit Diagnosen wie ADHS oder Autismus verbinden sich viele leidvolle Geschichten, weil eine Hochbegabung nicht erkannt wurde.“

Andrea Steinforth,
beratende Psychologin im Verein

Sie selbst, erzählt Steinforth, sei sich erst im Erwachsenenalter ihrer besonderen Fähigkeiten bewusst geworden, habe mit 48 Jahren das Studium der Psychologie begonnen und sich auf diesen Bereich spezialisiert. Zuvor war sie als Industriekauffrau und Krankenschwester tätig, hat ein Altenheim geleitet. „Meine Eltern hielten die Realschule für ausreichend. Ich habe mich angepasst. So wie viele.“

Häufig schwappt der Schulstress auf die ganze Familie über

„Ich bin nicht richtig, außerhalb der Norm“: Dieses Gefühl hätten Kinder und Jugendliche häufig, wenn Lehrer sie ausbremsen. Sätze wie „Das lernst Du später noch“ oder „Diesen Stoff behandeln wir gerade nicht“ seien leider ein gängiges Mittel, das bei den Betroffenen wiederum zu Stress führe.

Der Pinguin ist das Maskottchen des Vereins: An Land wirkt sein Watscheln unbeholfen, im Wasser ist er ein fantastischer Schwimmer.
Der Pinguin ist das Maskottchen des Vereins: An Land wirkt sein Watscheln unbeholfen, im Wasser ist er ein fantastischer Schwimmer. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Und häufig schwappe dieser Schulstress auf die ganze Familie über. Eltern, die erstmals mit dem Thema Hochbegabung in Berührung kämen, seien damit allerdings überfordert und suchten Hilfe. Elisabeth Backes: „In Deutschland tut man sich mit dem Thema Hochbegabung und vor allem mit dem Begriff Elite aufgrund unserer Vergangenheit schwer. In Amerika, England und in Asien freuen sich die Eltern, wenn ihre Kinder besondere Fähigkeiten haben und gefördert werden.“ Hierzulande sei das „Andersein“ geprägt von Vorurteilen.

Ein Raum für Menschen, die bislang belastet durchs Leben gehen

Dem möchte der Verein „Das Dorf“ abhelfen. 2021 von einer Handvoll Menschen gegründet, hat der Verein inzwischen über hundert Mitglieder. Andrea Steinforth, eine der Mitbegründerinnen, betont allerdings: „Wir absolvieren hier kein Trainingsprogramm oder ähnliches.“ Vielmehr gehe es darum, einen Raum für Austausch, für Familien wie für Einzelpersonen, die zum Teil seit Jahren belastet durchs Leben gehen, zu bieten.“ Im „Dorf“ sollen sie erfahren, dass es andere gibt, denen es genauso geht.

Offener Nachmittag

Zu einem offenen Nachmittag lädt der Verein „Das Dorf“ am Freitag, 3. Januar, in sein Domizil in Essen-Werden, Wesselswerth 2, ein. Von 16 bis 18 Uhr können Interessierte die Angebote kennenlernen und mit den Vereinsmitgliedern sowie den professionellen Kräften ins Gespräch kommen.

Weitere Informationen gibt es auf der Homepage dasdorfruhr.de.

Wie zum Beispiel Rebecca Eggeling (45). „Der kann ja alles schon“, hörte sie bei der Einschulung ihres Sohnes von der Lehrerin. Zuerst habe sie das Thema „weggeschoben“, sich dann aber damit auseinandersetzen müssen. Denn der ältere Sohn fiel ebenfalls auf, jedoch durch eine Verweigerungshaltung. Im „Dorf“ habe sie nicht nur Unterstützung gefunden, sondern könne sie sich auch selbst einbringen. Sie leitet Kinder- und Jugendgruppen in den Vereinsräumen.

Das Besondere: Die Räume werden sowohl von Mitgliedern für ehrenamtliche Angebote und Treffen genutzt, als auch von professionellen Psychologinnen für Beratung, Intelligenz-Diagnositk, Fortbildung oder Coaching. Es gibt Spielenachmittage, Kindergruppen, Entspannungsabende, Frauenfrühstücke oder Männertreffen. Seit einigen Monaten sind Kunstinteressierte im eigenen Atelier kreativ.

Auch Ältere müssen sich bei Treffen nicht mehr verstecken

Inzwischen finden dabei nicht nur Kinder und Jugendliche regelmäßig den Weg zum Wesselswerth. Immer mehr Menschen 60 plus seien dabei, berichtet Andrea Steinforth. Auch diese Generation habe erlebt, dass man ihre besondere Sensibilität und ihre Fähigkeiten nicht gesehen und ernst genommen habe. „Das sind Menschen, die tiefergehende Gespräche schätzen, die so sein wollen, wie sie sind und sich nicht mehr verstecken wollen.“

Im „Dorf“ werde viel gelacht, es entstünden spannende Dialoge und Freundschaften sowie ein verbindendes Netzwerk, sagt Elisabeth Backes. Das sei ein bisschen wie in einem echten afrikanischen Dorf.

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