Essen-Altenessen. Der Bestseller-Autor Tim Pröse ist nahe der Zeche Carl aufgewachsen, besuchte das Leibniz-Gymnasium. Warum ihn seine Essener Heimat nicht loslässt.

Bestsellerautor Tim Pröse wurde 1970 in Altenessen geboren, zog mit 19 Jahren für sein Studium nach Holsterhausen und mit 26 dann nach München, wo er bis heute lebt. Doch in seinen Heimat-Stadtteil kehre er immer wieder gern zurück, sagt er. Sei es, wie kürzlich zur Hochzeit eines alten Freundes, der „ganz stilecht in einer Kleingartenanlage“ feierte, oder, um seine Bücher vorzustellen, wie diesen Sommer auf Anfrage seiner ehemaligen Schule und jetzt, am 3. Dezember in der Zeche Carl.

Uns hat er erzählt, warum auch schlechte Entwicklungen seiner Heimatliebe nichts anhaben können und wie er aus Erinnerungen an Altenessen Inspiration zieht.

Werfen wir einen Blick zurück: Welche Orte kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an das Altenessen Ihrer Kindheit und Jugend denken?

Als Kind war der Stadtteil – schon damals im Umbruch, weil die letzten Zechen starben – für mich ein großer Abenteuerspielplatz. Unsere Highlights waren die Alte Ziegelei in dem Wäldchen, wo heute das Awo-Seniorenheim in der Schonnefeldstraße ist, und der Anna-Berg: die Schutthalde des Zweiten Weltkriegs, wo man noch unglaublich viel aus dieser Zeit entdecken konnte – für uns eine aufregende Gegend zum Streunen. Wir haben Buden gebaut, unterirdische und überirdische. Wir waren verwachsen mit dieser Heimat. Jetzt kann ich förmlich hören, wie einige Altenessener sagen: „Ja, ja, jetzt erinnert er sich an seine alte Heimat, aber er ist damals abgehauen.“

Womit sie Recht hätten. . .

Natürlich, viele Menschen verlassen ihre Heimat eines Tages: Seit fast drei Jahrzehnten lebe ich in München und es ist schön dort, aber je älter ich werde, desto größer wird die Sehnsucht nach den Wurzeln. Das hat nichts damit zu tun, ob eine Heimat attraktiv oder objektiv schön ist, sondern ob es eben deine Heimat ist.

Wie ist es heute: Was fällt Ihnen auf, wenn Sie zu Besuch sind?

Es gibt, Gott sei Dank!, noch zwei meiner absoluten Lieblingsbüdchen: Eine davon ist in der Hospitalstraße. Dort habe ich früher meine Mickey-Maus- und meine Yps-Hefte gekauft. Und weil ich später Journalist und Buchautor geworden bin, sind diese Kioske mit ihren Zeitschriften und Zeitungen für mich ein Lebensmittelpunkt, ein Wahrzeichen meiner Heimat. Wenn ich dort dann sage: „Ich bin der Tim und habe hier vor 45 Jahren meine Bonbons gekauft“, dann kommt man mit den Leuten ins Gespräch. Das ist bis heute so geblieben.

Doch vieles hat sich auch gewandelt, nicht nur positiv. Was macht das mit Ihrer Heimat-Verbundenheit?

Zu allem anderen, was sich – auch zum Schlechten – verändert hat, kann ich immer nur sagen: Es gibt diesen Vers: „Heimat ist da, wo das Herz wehtut.“ Das ist eigentlich positiv gemeint: diese Herzensschwere, die man spürt, wenn man in die Heimat kommt. Es kann aber auch so gedeutet werden, dass es manchmal wehtut, wenn man sieht, was sich verändert hat, dass die Not größer geworden ist, Stichwort: Tafel, Gabenzaun. Die großen Zechen, auf denen alle Menschen Arbeit fanden, gibt es nun nicht mehr. Ich bin schon mit dem Gefühl aufgewachsen, dass die Heimat ein Stück weit abgebaut wird.

Wie das?

Was uns groß und stark gemacht hat, wurde mit den Jahren abgerissen und verschwand. Ich bin viel unterwegs, habe ungefähr 100 Lesungen im Jahr, und wenn ich im Osten bin, freue ich mich für die Menschen dort, wie ihre Heimat wieder aufgebaut wurde, aber es tut mir im Herzen weh, dass meine Heimat im Westen nicht so schön aufgebaut werden konnte, wie es im Osten geschehen ist.

„Was uns groß und stark gemacht hat, wurde mit den Jahren abgerissen und verschwand.“

Hat Ihre Herkunft Einfluss auf Ihr Leben gehabt?

Das Unaufgeregte, das Geerdete, durchaus auch das Arbeitermilieu, hat mich im Leben immer weitergebracht: Wer in Altenessen groß wird, der kann überall in der Welt leben, weil er mit den Menschen kann – das haben wir gelernt. Auch, dass man die Nase nicht zu hoch tragen, sondern zusammenstehen sollte. Dafür bin ich sehr dankbar.

Können Sie ein Beispiel geben?

Wenn ich Menschen neu kennenlerne und sie interessant finde, stelle ich mir die Frage: „Würdest du mit dem gerne unter Tage arbeiten?“ Ich male mir immer aus, ob man das mit der Person könnte, also ob sie mein Kumpel werden könnte. Danach beurteile ich Menschen bis heute.

„Wer in Altenessen groß wird, der kann überall in der Welt leben, weil er mit den Menschen kann.“

Wohin zieht es Sie, wenn Sie in die alte Heimat zurückkehren?

Wenn ich in Essen bin, gehe ich gern die Straßen meines Viertels ab: An meiner Grundschule, der Bückmannshof-Grundschule, entlang und durch die Schonnefeldstraße mit den uralten Platanen, dann weiter bis zu meinem Leibniz-Gymnasium, durch den Kaiser-Wilhelm-Park, und ich bin tief berührt von meiner alten Heimat. Der Direktor am Leibniz-Gymnasium, Martin Tenhaven, ist ein alter Klassenkamerad. Deshalb habe ich auch zu meiner aktuellen Lesung Schülerinnen und Schüler eingeladen, genauso wie meine Freunde von der Essener Tafel. Auch Uli Hütte und Tanja Doczekala vom Gabenzaun, mit ihrem Mann Andreas, der mir beim letzten Besuch eine Grubenlampe geschenkt hatte. Die habe ich gebeten, 20 Leute mitzubringen, weil ich es bewundernswert finde, wie sie sich – und so viele andere – für Altenessen einsetzen. Oft besuche ich auch meinen alten Deutschlehrer, Roderich Thien, Leistungskurs Deutsch, mein wunderbarer Lehrer, der zum Freund wurde.

Für einen Autor, der wie Sie viel unterwegs ist, spielt die Inspiration durch unterschiedliche Orte sicher eine große Rolle. Lässt die sich in Altenessen finden?

Und ob sich da Inspiration finden lässt! Wenn ich vor meiner alten Grundschule stehe, denke ich an diese unglaubliche Leichtigkeit der Kindheit und diese Sorglosigkeit damals, wie ich dann im Altenessener Judoclub war mit meinen Kumpels, wie ich das erste Mal verliebt war auf dem Pausenhof. Und ich denke an meinen ersten Job.

Wo haben Sie gearbeitet?

Ich habe mein erstes Geld bei Stauder verdient und wenn ich an der Stauder-Brauerei vorbeigehe – wie soll es anders sein als Ruhrpott-Mann –, bin ich begeistert. Dann denke ich an viele schöne Abende mit Freunden bei Stauder-Pils.

Also wirken all diese Orte inspirierend?

Meinem neuesten Buch habe ich den Vers der jüdischen Literatur-Nobelpreisträgerin Louise Glück vorangestellt: „Wir sehen die Welt einmal, in der Kindheit. Der Rest ist Erinnerung.“ Genauso ist es mit Altenessen: Wenn ich die Augen schließe und mich erinnere, dann sind die Altenessener Welten dort, auch die schwierigen, die nicht-schönen. Und die inspirieren mich als Autor immens.

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Worum geht es in Ihrem neuen Buch und wie entstand die Idee dazu?

Für mein Buch „Wir Kinder des 20. Juli“ habe ich zwei Jahre lang Nachfahren der Helden des Hitler-Attentats begleitet: Stauffenberg junior, Goerdeler junior, Moltke junior. Es ist im Grunde eine Fortsetzung meines Buchs „Jahrhundertzeugen“. Dafür hatte ich damals Berthold Beitz porträtieren dürfen, der mir mit 92 Jahren von seinen Taten im Dritten Reich erzählt hatte: Dass er nämlich 1500 Juden aus Zügen, die nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager fahren sollten, befreit hatte. Auch das ist für mich Heimat: Wenn ich zurückfahre nach Essen, denke ich an Berthold Beitz – und an meinen sehr guten, mittlerweile verstorbenen Freund Jurek Rotenberg, der mit 15 Jahren von ihm gerettet wurde.

Unter den fünf Stadtteilen, in denen die AfD bei der Europawahl stärkste Kraft wurde, war auch Altenessen-Süd. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Die AfD hat es geschafft, den Menschen in meiner Heimat das Gefühl zu geben, sie könnte die zugegebenermaßen großen und sogar riesengroßen Probleme aus der Welt schaffen. Ich bin der Meinung, dass sie das nicht kann und dass sie Zwietracht unter den Menschen sät. Ich verstehe, dass viele enttäuscht sind und nach neuen Wegen suchen, aber das muss immer unter Demokraten geschehen. Die Menschen, die ich auf Zeche Carl vorstelle, das waren Mutmach-Menschen in einer viel, viel dunkleren Zeit als der heutigen. Sie standen für die Menschlichkeit, ein neues Miteinander, die Herrschaft des Rechts. Daran sollten wir uns erinnern, das sollten unsere Vorbilder sein.

Sie sagen, dass Ihnen die bevorstehende Lesung in Altenessen besonders viel bedeutet – warum?

Es ist doch wie in einem Traum, dass man eine Stadt, einen Stadtteil verlassen hat und nach vielen Jahren eingeladen wird, zurückzukommen, und zwar an den Ort, der ein Wahrzeichen dieses Stadtteils ist und auch das Wahrzeichen meines Lebens: Zeche Carl. Direkt gegenüber bin ich geboren und aufgewachsen. Wenn dann auch noch Leute kommen, die einen begleitet haben, die Nachbarn und Freunde von damals, dann ist das ein überwältigendes, wunderbares, warmes Gefühl. Was Schöneres kann ich mir nicht vorstellen, als auf Zeche Carl aufzutreten. Deswegen bin ich so dankbar und glücklich, dass ich eingeladen wurde, auf Anregung der Initiative „Augenblick mal Altenessen“ und der Bücherschrankinitiative. Und dass mich der Sänger Tim Kox aus Essen begleitet und das Steigerlied aufleben lassen wird.

Die Lesung „Wir Kinder des 20. Juli“ von Tim Pröse findet am Dienstag, 3. Dezember, um 20 Uhr (Einlass: 19 Uhr) in der Altenessener Zeche Carl, Wilhelm-Nieswandt-Allee 100, statt. Tickets kosten im Vorverkauf zehn Euro (ermäßigt: fünf Euro). Der Preis an der Abendkasse beträgt zwölf Euro (ermäßigt: acht Euro).

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