Essen. Sieben Raketen treffen die ukrainischen Solidaritäts-Partnerstadt schwer. Vor einem Besuch aus der Ukraine zieht Essen derweil eine Bilanz der Flucht.

Vor ein paar Tagen haben sie eine der Vitrinen im Essener Rathaus neu bestückt: Die Erinnerungsstücke an die russische Partnerstadt Nischni Nowgorod, sie mussten denen aus dem ukrainischen Riwne weichen. Denn wie soll man auch die Völkerfreundschaft feiern, das friedliche Miteinander über alle Grenzen hinweg, wenn ein Land seinen Nachbarn brutal überfällt?

Bilanz des Angriffs: Verletzte, hoher Sachschaden und 230.000 Haushalte ohne Strom und Wasser

Wie das aussieht, erlebte Essens „Solidaritätspartnerstadt“ Riwne am vergangenen Sonntag. Es war Tag 998 des russischen Überfalls, als ab morgens um sieben Uhr Ortszeit binnen kürzester Zeit sieben Raketen auf Riwne nieder gingen. Es gab massive Schäden an einem Umspannwerk und hunderten Gebäuden ringsum, Verletzte und 230.000 Haushalte ohne Strom und Wasser.

Bunker statt holzvertäfelter Sitzungssaal: Als Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen Ende August in Riwne vorbeischaute, musste das Gespräch mit Stadtsekretär Viktor Shakyrzian verlegt werden: Es herrschte Luftalarm.
Bunker statt holzvertäfelter Sitzungssaal: Als Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen Ende August in Riwne vorbeischaute, musste das Gespräch mit Stadtsekretär Viktor Shakyrzian verlegt werden: Es herrschte Luftalarm. © Wolfgang Kintscher

„Liebe Einwohner von Riwne, bewahren wir einen kühlen Kopf und geladene Powerbanks!“, schrieb der dortige frühere Oberbürgermeister Oleksandr Tretyak in einer Nachricht auf dem Kurznachrichten-Kanal Telegram, doch dass dies allein wohl nicht reicht, erfährt Essens Stadtspitze zwei Tage später: Es geht ein Brief der Ukrainer an die „lieben Partner, Kollegen und Freunde“ der deutschen Partner um, und in den dort formulierten Dank für die bisherige Unterstützung mischt sich ein flehender Appell des amtierenden Riwner OB Viktor Shakyrzian: „Wir bitten Euch, lasst uns nicht allein mit dem Angreifer.“

Mehr als 10.000 ukrainische Bürger steuerten nach Kriegsausbruch Essen an. Bei weitem nicht alle blieben

Damit verbunden ist die Bitte um weitere Hilfe: „Wir brauchen dringend Stromgeneratoren verschiedener Kapazität und Blockheizkraftwerke, um den Betrieb der kritischen Infrastruktur der Stadt ohne Unterbrechungen sicherstellen zu können.“ Tausende Einwohner seien nach wie vor ohne Wasser und Strom. Der Winter könnte hart werden.

Ein dringender Hilfs-Appell erreicht in diesen Tagen alle Partner und Freunde der ukrainischen Großstadt Riwne: Um die kritische Infrastruktur aufrechtzuerhalten benötige man dringend Strom-Generatoren und Blockheizkraftwerke, heißt es.
Ein dringender Hilfs-Appell erreicht in diesen Tagen alle Partner und Freunde der ukrainischen Großstadt Riwne: Um die kritische Infrastruktur aufrechtzuerhalten benötige man dringend Strom-Generatoren und Blockheizkraftwerke, heißt es. © Wolfgang Kintscher

Der Hilferuf geht an alle ausländischen Partner von Riwne und mit Essen an eine Stadt, die sich mit ihrer Hilfe für die krieggeschüttelte Ukraine bislang fürwahr nicht zu verstecken braucht: Nach letzten Angaben des Essener Amtes für Soziales und Wohnen haben weit über 10.000 Menschen seit Kriegsbeginn Essen als erste Anlaufstelle für Zuflucht angesteuert, 274 neue Flüchtlinge waren es allein im dritten Quartal des Jahres.

„Die Integration läuft ganz gut“, findet Olga Ianushevych, eine nach Essen geflüchtete Mutter aus Kyiv

Doch bei weitem nicht alle blieben sie in der Stadt: Derzeit sind 9283 Ukrainerinnen und Ukrainer mit Hauptwohnsitz hier gemeldet, davon 626 in einer der Flüchtlingsunterkünfte. Zieht man jene 1050 Personen ab, die schon vor dem Kriegsausbruch in Essen eine neue Heimat gefunden hatten, bleiben gut 8200 Neu-Essener übrig. Viele von ihnen leben in den Stadtteilen Holsterhausen (632), Frohnhausen (519), Altendorf (496), Altenessen-Süd (420) und im Südostviertel (416).

Der silberne Hirsch auf dem Sprung, Wahrzeichen von Nischni Nowgorod, muss seinen Platz in der Vitrine des Rathauses räumen. Die Partnerschaft mit der russischen Millionen-Stadt an der Wolga „ist klinisch tot“, sagt OB Thomas Kufen.
Der silberne Hirsch auf dem Sprung, Wahrzeichen von Nischni Nowgorod, muss seinen Platz in der Vitrine des Rathauses räumen. Die Partnerschaft mit der russischen Millionen-Stadt an der Wolga „ist klinisch tot“, sagt OB Thomas Kufen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Da kriegsfähige Männer nur unter bestimmten Bedingungen ausreisen dürfen, ist der Frauen-Anteil verhältnismäßig hoch: Eine von ihnen ist Olga Ianushevych aus Kyiv, Rechtsanwältin von Beruf, Mutter von drei Kindern, Flüchtling seit dem zweiten Tag der Kämpfe und auch nach 1000 Tagen Krieg in ihrer Heimat noch zuversichtlich, dass sich irgendwie alles zum Guten wenden wird. Denn „die Integration läuft ganz gut“, findet sie, allen Hürden zum Trotz, etwa wenn es um Schulplätze geht.

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Dass dies ein Kraftakt für die Stadt ist, weiß sie: 2325 hier lebende Ukrainer sind unter 18, und nicht alle haben wie ihr Nachwuchs Deutsch in der Schule gelernt. Doch gerade die Sprache gilt als Schlüssel-Qualifikation für die Zukunft: 1773 Personen sind derzeit in Integrations- und Sprachkursen, „viele Bekannte haben schon Kenntnisse der Stufe B2“, freut sich Ianushevych, das heißt, sie können sich spontan und fließend mündlich verständigen. Immer mehr schaffen es auch darüber hinaus, „ich kenne schon einige, die einen Job gefunden haben“.

Auf Videos, die der ehemalige Oberbürgermeister von Riwne, Oleksandr Tretyak, teilte, sind die Explosionen im Umspannwerk von Riwne zu sehen. Zeitweise waren 230.000 Einwohner ohne Strom und Wasser.
Auf Videos, die der ehemalige Oberbürgermeister von Riwne, Oleksandr Tretyak, teilte, sind die Explosionen im Umspannwerk von Riwne zu sehen. Zeitweise waren 230.000 Einwohner ohne Strom und Wasser.

Gleichwohl ist da noch Luft nach oben, und auch Olga Ianushevych kennt die mehr oder weniger unterschwellige Diskussion darüber, welche Leistungen man den Kriegsflüchtlingen auf Dauer zugestehen will. Auch Job-Center und Arbeits-Agentur würden gern manche Lücke am Arbeitsmarkt füllen, der Mangel an Arbeitskräften ist für viele Unternehmen längst zum Problem Nr. 1 geworden.

Noch beziehen 6300 Ukrainer Bürgergeld, weitere 1000 Hilfe zum Lebensunterhalt

Laut Stadt Essen verfügen bislang aber erst 588 Ukrainer über einen Arbeitsplatz, weitere 188 machen ein Praktikum oder befinden sich in Qualifizierungs-Maßnahmen. Das Potenzial liegt bei mehr als dem Sechsfachen. Und zur Wahrheit gehört eben: Noch beziehen 6300 Ukrainer Bürgergeld, etwas mehr als 1000 Hilfe zum Lebensunterhalt, weil sie erwerbsgemindert oder zu alt sind.

„Die Integration läuft ganz gut“, findet Olga Ianushevych, die mit ihren drei Kindern seit rund zweieinhalb Jahren in Essen lebt. Sie profitiert von ihren perfekten Deutsch-Kenntnissen.
„Die Integration läuft ganz gut“, findet Olga Ianushevych, die mit ihren drei Kindern seit rund zweieinhalb Jahren in Essen lebt. Sie profitiert von ihren perfekten Deutsch-Kenntnissen. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Olga bemüht sich, ihren Beitrag zum Gelingen zu leisten: In ihrer Wohnung in Holsterhausen hat sie fürs erste die Familie ihres Cousins aufgenommen, eine Mutter mit drei Kindern. Sie übersetzt, weist ihnen den Weg durch das Dickicht des deutschen Alltags. „Was da wo zu tun ist, erkennt nicht jeder sofort.“

Der Rats-Sekretär der Stadt Riwne spricht am kommenden Mittwoch vor dem Stadtrat in Essen

Die Stimmung unter den Ukrainern? „Ist fifty-fifty“, schätzt die Rechtsanwältin mit Blick auf die Lage in ihrer Heimat: Die Community sei emotional hin- und hergerissen, die einen buchstäblich kriegsmüde und bereit, unter Schmerzen östliche Landesteile zu opfern, wenn dafür die Waffen schweigen. Die anderen wollen den Traum von einem ruhmreich zurückgeschlagenen russischen Aggressor dagegen noch nicht gänzlich aufgeben: „Wofür haben wir sonst gekämpft und so viele Kameraden verloren?“

Als im Sommer nach einem Luftangriff auf Riwne stundenlang der Strom ausfiel, behalfen sich einige Geschäftsleute mit Strom-Generatoren. Davon bräuchte es viel mehr, signalisieren jetzt die Partner in Riwne.
Als im Sommer nach einem Luftangriff auf Riwne stundenlang der Strom ausfiel, behalfen sich einige Geschäftsleute mit Strom-Generatoren. Davon bräuchte es viel mehr, signalisieren jetzt die Partner in Riwne. © Wolfgang Kintscher

Ein Stimmungsbild aus erster Hand dürfte demnächst der Sekretär des Riwner Stadtrates den hiesigen Politikern geben: Nachdem Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen Ende August erstmals nach Riwne reiste und sich wegen eines Luftalarms prompt im hoteleigenen Bunker wiederfand, erwidert Viktor Shakyrzian kommende Woche mit einer Delegation den Besuch. Geplant ist, dass er zu Beginn der Ratssitzung das Wort ergreift.

Die Städtepartnerschaft mit Nischni Nowgorod? „Klinisch tot“, sagt der Essener Oberbürgermeister

„Ich freue mich sehr über diesen Besuch“, sagt OB Kufen, der auf der Karte der Essener Partnerstädte das seit 33 Jahren mit Essen verbandelte russische Nischni Nowgorod mit einer Fußnote hat versehen lassen: Danach „ruht“ das Verhältnis aufgrund des russischen Angriffs, wobei der Oberbürgermeister im Gespräch noch um einiges deutlicher wird: „Die Städtepartnerschaft ist im grunde klinisch tot. Wir haben seit dem Überfall null Kontakt“, betont Kufen auf Anfrage, „ein Zustand wie es ihn selbst im tiefsten Kalten Krieg nicht gab“.

Plakative Partnerschaft: Im Zuge des Ukraine-Krieges knüpfte Essen Kontakte zur westukrainischen Großstadt Riwne als sogenannte „Solidaritätspartnerstadt“.
Plakative Partnerschaft: Im Zuge des Ukraine-Krieges knüpfte Essen Kontakte zur westukrainischen Großstadt Riwne als sogenannte „Solidaritätspartnerstadt“. © Wolfgang Kintscher

Vor wenigen Wochen hatte Kufen sich noch mit der russischen Community in Essen ausgetauscht, froh darüber, dass diese von Anfeindungen und Diskriminierung nichts zu berichten hat: „Die Menschen können offenbar differenzieren, das finde ich gut.“ Für das Partnerschafts-Verhältnis aber „fehlt mir aktuell die Phantasie, wie wir zurück zu einem Miteinander finden können, denn der Weg dahin wird mit jedem Kriegstag länger“.

Bis er wieder begangen wird, bleiben all die Erinnerungen und Geschenke aus Nischni Nowgorod, der Schmuckteller, der silberfarbene Hirsch auf dem Sprung und auch die einst feierlich unterzeichnete Urkunde – gut verwahrt im Schrank.

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