Riwne/Essen. Der Ukraine-Besuch sollte ein Zeichen der Solidarität sein: Doch dann muss Thomas Kufen beim russischen Luftangriff selbst Schutz suchen.

Die Anreise war beschwerlich. Doch dass dieser Besuch im ukrainischen Riwne die üblichen Grenzen sprengt, wird Thomas Kufen an diesem Montag spätestens um 5.25 Uhr klar: Da schreckt ihn das Geheul der Sirenen aus dem Schlaf, über den Hotel-Lautsprecher warnt eine Durchsage in Landessprache, und auf dem Handy meldet sich die Alarm-App im Befehlston: „Bitte suchen Sie einen Schutzraum auf!“ Der Essener Oberbürgermeister tut, was man ihm für diesen Fall geraten hat: Er tut nichts.

Essens Oberbürgermeister in Riwne: Eindrücke im Video

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Machen, was die Einheimischen machen, hieß nämlich die Devise. Wenn also die Ukrainer sich nicht scheren, ist alles okay. Weiterschlafen, wenig später frühstücken, das Besuchsprogramm abarbeiten. Die meisten Luftalarme erledigen sich eh binnen einer Dreiviertelstunde, viel Lärm um nichts, man stumpft halt ab. Aber dann stehen sie vor der Tür des Hotels Ukraine am Theaterplatz der Solidaritäts-Partnerstadt, und ein lautes Krawumm lässt die Scheiben ringsum erzittern und fährt allen in die Glieder.

„Das war die Luftabwehr“, heißt es tröstend, aber schon wenig später zeigt sich: Das stimmt nicht. Eine Rakete ist in das Umspannwerk der Stadt Riwne eingeschlagen, nur ein paar Kilometer entfernt. Russland überzieht die ganze Ukraine mit einer wahren Angriffswelle von Raketen, Drohnen, Hyperschall-Raketen und Marschflugkörpern, 15 der 24 Regionen sind betroffen, auch Riwne bleibt nicht verschont.

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Dichter Rauch steigt auf über der Szenerie am Stadtrand. Es ist der vierte Angriff der Russen auf die örtliche Energie-Infrastruktur binnen zweieinhalb Kriegsjahren, und mit einem Schlag ist der Essener OB in einem Krieg, den er so nah nun auch wieder nicht an sich heranlassen wollte. „Ein unglücklicher Tag… sei vorsichtig“, schreibt ihm die ehemalige Generealkonsulin in Düsseldorf Iryna Shum per WhatsApp.

Der Fiat Ducato ist ein Geschenk der Stadt, vermittelt über die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), OB Kufen übergibt die Schlüssel an den Stadt-Sekretär Viktor Shakyrzian.
Der Fiat Ducato ist ein Geschenk der Stadt, vermittelt über die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), OB Kufen übergibt die Schlüssel an den Stadt-Sekretär Viktor Shakyrzian. © Wolfgang Kintscher

Solidarität zeigen, so war das ja auch abgemacht. Zwei gespendete Autos übergeben, einen Lieferwagen und ein Bestattungs-Fahrzeug, dazu Hilfsgüter, ein paar nette Worte. Durchhalteparolen. Und jetzt findet sich die Essener Delegation mitsamt den Helfern im Hotel-eigenen Bunker wieder, man holt sich schnell noch einen Kaffee, die ersten Termine kippen. Stattdessen: Small-Talk im Funzellicht.

Essens Oberbürgermeister in der Ukraine: Stromausfall

Es dauert geschlagene fünf Stunden und 41 Minuten, bis der Alarm aufgehoben ist, das Programm wird fortgesetzt, aber es steht unter einem gänzlich anderen Eindruck. Auf dem Weg zum Maidan, wo Angehörige und Freunde Abschied von einem 35-jährigen gefallenen Soldaten nehmen, geht es vorbei an liegengebliebenen Oberleitungs-Bussen, denen der Strom zur Weiterfahrt fehlt. Vor nahezu jedem Geschäft brummt und stinkt ein Diesel-Generator vor sich hin, um für den Strom zu sorgen, den das Netz nicht mehr liefern kann. Wie lange der Saft wegbleibt? Achselzucken. Es kann ein paar Stunden dauern. Wenn sie Pech haben, ein paar Tage.  

Ohne Strom bleiben die Oberleitungsbusse stehen. Die Menschen in Riwne ertragen es mit großer Gelassenheit
Ohne Strom bleiben die Oberleitungsbusse stehen. Die Menschen in Riwne ertragen es mit großer Gelassenheit © Wolfgang Kintscher

Und im Rathaus trifft man sich mit dem Stadt-Sekretär Viktor Shakyrzian und seiner Stellvertreterin Maria Illlyiyna Korniychuk nicht im vertäfelten Sitzungssaal, sondern wieder: im Keller-Bunker, dessen Atmosphäre mit ein paar Sitzbänken und einem Billardtisch im Nebenraum aufgehübscht wurde. Shakyrzian redet vom Sieg in diesem Krieg, den sie sich hier alle so sehr wünschen, er spricht von den Gefallenen und der tiefen Dankbarkeit gegenüber den Helfern aus Essen, einmal mehr: „Wir hoffen weiter sehr auf Ihre Unterstützung.“

Essens OB Kufen: „Hier geht es nicht um Lebensqualität, sondern ums Überleben.“  

Thomas Kufen bleibt bei den Worten, die er sich für diesen Moment zurechtgelegt hat, aber sie bekommen plötzlich emotionales Gewicht: „Ich wusste, dass es keinen richtigen Tag für diesen Besuch gibt“, sagt er und spricht von den Themen, denen sich Kommunalpolitik normalerweise widmet: von Straßenbau und Kitas, Grünflächen, Radwegen und dergleichen, „aber jetzt muss man sagen: Hier geht es nicht um Lebensqualität, sondern ums Überleben.“  

„So eindrucksvoll war das gar nicht geplant.“

OB Thomas Kufen über seine Eindrücke in Riwne

Er sei, wird der Essener Oberbürgermeister später sagen, „mit total gemischten Gefühlen hergefahren“. Er wollte die Stadt erleben, wollte authentisch berichten können, „aber so eindrucksvoll“, sagt er bitter, „war das gar nicht geplant“.

Im Lyceum Nr. 7 in der Himnaziina-Straße, einem Gymnasium, dessen 1200 Schülerinnen und Schüler zwischen 6 und 17 Jahren mit Deutsch als erster und zweiter Fremdsprache punkten, wird er am Nachmittag 30 gebrauchte Laptops übergeben. Er wird mit Viktor Zhabchyk sprechen, einem Nudel-Fabrikanten, der einst auch in Düsseldorf lernte und mit seiner Firma Vilis unter anderem für die Supermarkt-Kette Lidl 100 Tonnen Nudeln pro Tag produziert. Er wird ein Krankenhaus besuchen, das Stadion des örtlichen Fußballvereins Veres Riwne, das Theater, das seit Kriegsbeginn nahezu durchgehend ein ausverkauftes Haus meldet.

Der OB zu Besuch im Lyceum Nr. 7. Die Schülerinnen und Schüler können sich über 30 gebrauchte und aufgebrezelte Laptops freuen.
Der OB zu Besuch im Lyceum Nr. 7. Die Schülerinnen und Schüler können sich über 30 gebrauchte und aufgebrezelte Laptops freuen. © Wolfgang Kintscher

Und er wird, in den wenigen ruhigen Minuten, darüber sinnieren „wie gut es uns geht, dass wir in Sicherheit leben und so eine Raketen-App nicht brauchen“. Im Vorfeld haben ihn viele gefragt, ob er Angst hätte, in ein Land im Krieg zu fahren, ob das denn alles sein muss. Ja, es muss. „Aber ich bin auch froh darüber, dass wir morgen wieder fahren können“, sagt Thomas Kufen dann. „Man muss das Schicksal nicht herausfordern.“

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