Essen/Riwne. Ein Konvoi in die Ukraine und Helfer, die sich selbst beschenkt fühlen: eine Annäherung an Essens Solidaritäts-Partnerstadt in zehn Etappen.
Die letzten viereinhalb Stunden sind anstrengender als die 13 davor: Der Schlafmangel der Fahrer-Duos lässt sich längst nicht mehr verleugnen, aber die tiefen Schlaglöcher wollen umschifft sein, damit der Hilfskonvoi aus Essen heile sein Ziel erreicht: Riwne im Nordwesten der Ukraine. Ein Besuch im Kriegsgebiet.
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1. Im Keller
Wer wissen will, wie sich so ein Krieg anfühlt, der kann sich hier unten behutsam herantasten: In der gemütlichen Kellerbar des Hotels „Ukraine“, schräg gegenüber vom Theater in Riwne, haben sie das Dekor der brutalen Zeitenwende angepasst. Hinter ledernen Sitzgruppen, in der Ecke, dort wo ein Stapel gut gefüllter weißer Sandsäcke einen Kontrollposten andeutet, wurde ausrangiertes Anschauungsmaterial mit dünnen Stahlseilen an einem Gitter befestigt. So lässt sich zwischen zwei Feierabend-Bierchen zur Ausgangssperre prüfen, wie das Sturmgewehr AK-47, die „Kalaschnikow“, eigentlich in der Hand liegt.
An den Wänden leuchtende Helden-Gemälde von Sonnenblumen-Feldern, über die im Tiefflug ein ukrainisches Kampfflugzeug brettert. Eine Frau in Landestracht räkelt sich lasziv auf einem Panzer, im Hintergrund brennt ein Getreidefeld. Sieht so Krieg aus?
Wer von Essen nach Riwne fast nonstop ermüdende 1529 Straßen-Kilometer zurückgelegt hat und dann in dem Vier-Sterne-Hotel für umgerechnet 35 Euro pro Nacht unterkommt, der ist am ersten Tag noch nicht reif für solche Fragen. Aber er kann zumindest mal an-greifen, was mancher friedensverwöhnte Mitteleuropäer vielleicht noch nicht wirklich be-greifen mag: Europa ist wieder Schlachtfeld für Bomben und Raketen, Tod und Verderben.
Der laut Eigenwerbung „patriotische Pub“ im Keller (Werbeslogan: „Neues Format, neuer Geschmack, neue Atmosphäre“) befeuert dabei die Neugierde, legt noch Patronenhülsen aus und dazu eine Kalaschnikow-Variante mit rundem Trommel-Magazin. Für die ganz Hartgesottenen steht eine Panzerfaust, Modell „Launcher“, parat: Wer ein, zwei Wodka zu viel intus hat, der hält sie dann auch schon mal verkehrt herum.
2. Auf dem Maidan
Vom makabren Anschauungsunterricht zur tödlichen Kriegs-Wirklichkeit ist es dann kein weiter Weg mehr: Fünf Minuten geht man zu Fuß vom Hotel Ukraine zum Maidan Nezalezhnosti, dem Platz der Unabhängigkeit, wo sie in Riwne seit über einem Jahr jeden Donnerstagmorgen Abschied von ihren getöteten Soldaten nehmen. 250.000 Menschen leben in der Stadt, es ist ja immerhin die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz („Oblast“), rund 20.000 von ihnen verteidigen ihr Land im russischen Angriffskrieg. Mehr als 360 von ihnen haben diesen Einsatz bereits mit dem Leben bezahlt.
An diesem Vormittag kommt ein Opfer dazu, sein Sarg wird von einen klapprigen PAZ-Minibus aus russischer Produktion zur Platzmitte vorgefahren. Valeriy Vitaliiovych Polishchuk, den sie hier vor dem Kino-Center aufbahren, ließ bereits am 27. Januar sein Leben, so steht es auf der kleinen Tafel, die am Holzkreuz angebracht wurde. Gut zwei Monate galt der 55-Jährige in dem hin- und herwogenden Frontgebiet als vermisst, bis sein Leichnam gefunden und geborgen werden konnte.
In den Kreis derer, die heute Abschied nehmen und Blumen niederlegen, reihen sich neben Angehörigen, Freunden und ein paar Offiziellen auch die Gäste aus Essen ein: Stadtdirektor Peter Renzel, dessen Besuch den ersten offiziellen städtischen Vor-Ort-Kontakt mit Riwne als neuer „Solidaritäts-Partnerstadt“ Essens markiert. Und Matthias Bähre, Vorsitzende der Initiative „Lemberg wir kommen“, die mittlerweile schon zum achten Mal Hilfsgüter in die Ukraine bringt. Diesmal sind sie im Konvoi mit neun Transportern und rund zwölf Tonnen Material in die Stadt gekommen: Medikamente und Verbandsmaterial, medizinische Geräte und Spiele, tonnenweise Lebensmittel, Kinderkleidung und Süßigkeiten – humanitäre Hilfe für jene, die es am nötigsten haben.
Gar so viel Zeit ist nicht, das alles nach immerhin 20-stündiger Dauerfahrt nun auch noch zu den verschiedenen Adressen in Riwne und Umgebung zu bringen – in Kinderheime und Krankenhäuser, Alten-Einrichtungen und Sozialstationen. Aber diese Abschiedszeremonie auf dem Maidan will das Helferteam unbedingt miterleben. Auch, weil sie eine gute Gelegenheit bietet, einem Krieg ein persönliches Gesicht zu geben.
Dessen hohe Opferzahlen und Grausamkeiten haben ihn daheim in Deutschland schon früh zur abstrakten Größe gemacht, hier dagegen geht es nur um einen einzigen Mann, dem sie einen Laib Brot auf den Sarg gelegt haben – Wegzehrung für die letzte Reise. Familie und Kameraden stehen mit blau-gelben Blumensträußen am Rand, aus dem Lautsprecher tönt „Plyve Kacha Po Tysyni“ über den Platz: „Eine Ente schwimmt am Tysyn entlang“. So heißt das alte ukrainische Volkslied, das die Klage eines jungen Soldaten aufgreift: „Meine liebe Mutter, was wird aus mir, wenn ich in einem fremden Land sterbe?“
Die ukrainische A capella-Formation „Picardische Terz“ hat das traurige Lied 2002 im Stile eines gregorianischen Chorals aufgenommen. Es wurde weltberühmt, als es 2014 in den Soundtrack des vielgelobten Dokumentarfilms „Maidan“ aufgenommen wurde, und ist längst zur tieftraurigen Hymne einer ums Überleben kämpfenden Nation geworden. Polishchuks Mutter, seine Frau und Verwandte stehen gramgebeugt am Sarg, auf den die meisten Trauernden blau-gelbe Blumengebinde ablegen. Matthias Bähre, hat einen dicken Kloß im Hals: „Da ist ein mir wildfremder Mensch gestorben, aber diese Zeremonie hat mich dann doch mehr berührt, als ich je vermutet hätte.“
3. Hilfe aus Essen
Was einen unweigerlich zu der Frage führt, wie der Leiter eines Handwerksbetriebs, dem es dieser Tage weiß Gott nicht an Arbeit mangelt, dazu kommt, seine freie Zeit gemeinsam mit anderen Freiwilligen für Hilfsfahrten in die Ukraine zu opfern? Den Ausschlag, erzählt Bähre, gaben drei Ukrainer, die mal für ihn gearbeitet haben. Am 25. Februar 2022, am Tag nach dem russischen Überfall auf ihr Land, standen sie bei ihm auf der Matte und meldeten sich ab: Sie könnten nicht tatenlos zusehen, wie ihre Söhne zum Kämpfen an die Front gehen, sie müssten heim.
Soll man da widersprechen? Der 48-Jährige packte dem Trio den Wagen noch mit Hilfsgütern voll und legte damit den Grundstein für die regelmäßigen Touren: Aus einem vollgepackten Bully wurden bei der zweiten Tour neun, danach gar zwei Dutzend Fahrzeuge, und zuletzt, bei Tour Nr. 8, wieder neun – je nach Spenden-Aufkommen, je nachdem, wie viele Fahrer verfügbar sind. „Lemberg wir kommen“, heißt der Verein, der daheim noch mit der Finanzbürokratie kämpft, um die Gemeinnützigkeit einzustielen, aber längst liegt der Schwerpunkt auf Riwne, jener Stadt, die Essen als „Solidaritäts-Partnerstadt“ ausgeguckt hat, weil schon die polnische Partnerstadt Zabrze (Hindenburg) Kontakte dorthin pflegt. Eine hilfreiche Dreiecks-Beziehung.
Eine, bei der sich die Beteiligten kennen und schätzen gelernt haben, weshalb Bähre bei dieser Tour stellvertretend fürs gesamte Team eine offizielle Ehrung samt Urkunde vom Riwner Oberbürgermeister Oleksandr Tretyak in Empfang nimmt. Die Umarmung gehört dazu, und das Treueversprechen auch: „Ihr könnte Euch darauf verlassen, wir werden noch öfter kommen“, sagt Bähre. Für dieses Jahr sind noch die Fahrten 9 bis 14 terminiert.
Dabei ist die spontane Hilfsbereitschaft mit unbekümmertem Einsatzwillen hier und da längst semiprofessioneller Routine gewichen: Zweitägige Nonstop-Touren rein ins Land, ausladen, Hände schütteln und mit dunklen Rändern unter den Augen prompt wieder heimdüsen: Das gibt es nicht mehr, es schlaucht zu sehr, man nimmt sich etwas mehr Zeit. Nicht zuletzt, weil auch die Beschenkten Gelegenheiten brauchen, sich auf ihre Weise zu bedanken: Kein Halt ohne die vor Ort so beliebten gefüllten Croissants, ohne Gebäck oder Schnittchen, Wasser, Kaffee oder Tee. Gelegentlich auch mal ein Wodka. Wer seine Gegenüber nicht brüskieren will, trinkt einen mit oder sagen wir: nippt, weil er es noch mal und noch mal tun muss, so erklärt es ihnen der Leiter eines Waisen- und Behinderten-Heims: Drei Runden sind obligatorisch. Auf die Gesundheit!
4. Schenker und Beschenkte
Es ist diese Zuversicht, der Stolz und auch das Vertrauen darauf, dass schon alles gut werden wird, die Helferinnen und Helfer nach eigenem Bekunden bei allen Stationen so beeindruckt zurücklassen: „Bewegend“ und „berührend“, diese Vokabeln fallen immer wieder, wenn die eineinhalb Dutzend Helfer aus Essen, Mülheim und anderen Städten die Liefer-Stationen abgeklappert haben: Am Montag pfropften sie noch Kisten voller Mehl-Tüten, Würstchen-Gläser und Spargel-Konserven in die neun Lieferwagen, „polstern“ aus mit Windel-Kartons und Verbandsmaterial und rissen ein paar Scherze, muss auch mal sein.
Und drei Tage später ist auch der letzte Joghurt verteilt, zwei großzügige Geldspenden erlauben es, vor Ort verderbliche Ware zu kaufen. 10.000 Euro gab die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung, den gleichen Betrag steuerte die Essener Nothilfe bei.
Und jetzt lauschen sie dem ukrainischen Frauenchor, der zur Akkordeon-Begleitung ein paar schwermütige Volkslieder singt, es wird gefilmt, was der Handy-Speicher hergibt, und so geht das von Adresse zu Adresse. Bedenken, dass etwa die gebrauchten Materialien etwa aus Krankenhäusern oder Arztpraxen eher skeptisch beäugt werden, verfliegen im Nu: Kaum sind die Liegen in einem Krankenhaus aus den Lieferwagen geräumt, hätten Mitarbeiterinnen gefragt, ob sie die auf ihrer Station aufstellen dürfen, berichtet Olena Petriv, bei der Stadt Riwne für Internationale Beziehungen und dafür zuständig, dass sich Schenker und Beschenkte verständigen können. Wobei an den Gesichtern nicht immer so recht abzulesen ist, wer zu welcher Gruppe gehört.
5. Die Kinder
Denn da ist das ungläubige Staunen etwa über Natalja und Oleksandr, ein junges Paar, das in seinem Familien-Kinderheim Wulyk („Bienenstock“) nicht weniger als 29 Kinder betreut: drei eigene darunter und zehn, die aus dem Osten des kriegsgeschüttelten Landes in die Riwner Gegend kamen. Alle sind im Schulalter, man denkt an die „Pubertiere“ daheim und schaut fasziniert auf zwei Super-Eltern, denen keine Mühe anzusehen ist: er in Schalke-Jogginghose, an den sich verschämt die kleinen Jungs kuscheln, sie im Türrahmen mit einem Strahlen im Gesicht. Und beide schwärmen in bewundernswerter Leichtigkeit von Geburtstagsfeiern bei Pizza und Cola im großen kamingeheizten Wohnzimmer, die dem Waisen-Leben zumindest zeitweise all die Schwere des Schicksals nehmen.
Oder das Heim für Straßenkinder, dessen Direktor Serhiy Yakobchuk eben erst zu einer Eliteeinheit der Marineinfanterie einberufen wurde. Sieben Jungs und sieben Mädchen, manche zu ihrem Schutz aus kaputten Familien geholt, andere im Kriegsgewirr an Bahnhöfen aufgegriffen, präsentieren den Gästen stolz ihren ukrainischen Rap zur Musik vom Laptop: Sie singen von „Vaterwörtern“ und „Mutterliedern“ und einer freien unabhängigen Heimat: „Mein Name ist Ukraina“, heißt es da, „wir werden für Dich streiten. Wir sind klein, doch wir sind stark. Und der blaue Himmel bleibt für ewig in meinem Kopf, egal wo ich bin.“
Was macht der Krieg mit diesen Kindern?
Beim großen Kindergarten Nr. 52, der im Schatten der Hochhäuser mit seiner bunten Fassade hervorsticht, ist er Spielverderber und Spielinhalt zugleich. Muss ja, schließlich stecken die Kleinen mitunter stundenlang hier unten im bunt bemalten und geschmückten Luftschutzkeller: Heute sind sie aufgeregt, weil so viel Besuch da ist, turnen auf dem Doppelstockbetten herum, klettern rauf und wieder runter und wieder rauf. Oben ihren Mittagsschlaf halten, das dürfen sie längst nicht mehr: Wenn Luftalarm ist, dauert es sonst wieder ein bisschen länger, bis alle in Sicherheit sind, wer weiß stürzt womöglich noch jemand dabei, also lieber nicht. Ob sie bei Luftalarm Angst haben? Nein, das nicht, sagen sie, „aber wir träumen davon, dass der Krieg bald wieder vorbei ist und wir wieder oben schlafen dürfen“.
Es gab schon Tage, da sind sie viermal nacheinander die 16 Stufen heruntergeeilt, blieben meist ein, zwei Stunden, einmal sogar fünf. Die Vorräte dort unten reichen, um notfalls zwei Tage überleben zu können. Die Ventilation funktioniert gut, die Luft ist frisch, gar nicht muffig, und doch: Es fehlt einem an Fantasie, sich vorzustellen, wie sie hier unten stundenlang 218 kleine Racker im Zaum halten. Oben in den Kita-Räumen wären noch fast 200 weitere Plätze verfügbar, doch die 39 Kindergärten im Stadtgebiet dürfen nur so viele Kinder aufnehmen wie Bunkerplätze bereitstehen. Also sind die Wartelisten lang.
Dabei wäre hier in Nr. 52 noch Platz für ungefähr 100 weitere Kinder, doch das angrenzende Areal des Kriechkellers unter den großen Versorgungsleitungen auszukoffern und baulich zu befestigen, kostet Geld, das die Stadt derzeit nicht hat. Stadtdirektor Renzel postet diesen Umstand auf Facebook, und die Schilderung verfehlt ihre Wirkung nicht: Nicht einmal 14 Stunden später meldet er den Essenern in die WhatsApp-Gruppe begeistert, dass er eine erste private Spendenzusage über 20.000 Euro erhalten hat.
Darauf ein Wodka in der Kellerbar.
6. Der Krieg
Dass zumindest in Riwne nach den Fliegeralarmen nichts passiert, in den allermeisten Fällen jedenfalls, macht die Sache keineswegs einfacher. Tatsache ist: Am zweiten Kriegstag frühmorgens wurde der örtliche Flughafen angegriffen, am 14. März vergangenen Jahres schlug im Fernsehturm eine Rakete ein: 21 Soldaten starben allein bei diesem Angriff.
Im November 2022 gingen drei weitere Raketen im Stadtgebiet nieder. Eine traf die Energieversorgung, es gab kein Licht, keinen Strom, tagelang, auch die Oberleitungsbusse fielen aus und mussten per Traktor von der Straße geholt werden. Sie haben damals gespürt, wie verletzlich diese Stadt durch ihre extrem zentralisierte Versorgungs-Struktur ist: nicht nur beim Strom, auch die Heizung, die einen Treffer abbekam.
Eine warme Wohnung zu haben, das muss man wissen, ist in Riwne eine zentral gesteuerte Angelegenheit. Die Heizperiode wird im Spätherbst durch eine Unterschrift des Oberbürgermeisters gestartet und durch eine ebensolche Unterschrift des OB Anfang April auch wieder beendet. Wenn’s davor oder danach frostig werden sollte, was in diesem Kriegswinter zum Glück nicht der Fall war, dann müssen Pullover ran. Oder stromfressende Radiatoren. Der Winter war gottlob nicht übermäßig streng, aber er „war hart“, sagt OB Tretyak: Ganze 1440 Mal haben sie die Heizung ausschalten müssen.
Gleichwohl: Von größeren Zerstörungen in diesem Krieg ist Riwne bislang verschont geblieben, die Stadt ist Fluchtpunkt und Drehscheibe für viele Binnenflüchtlinge aus Donezk und Luhansk, aus Odessa und Bachmut: „von drüben“, wie sie hier gerne sagen. Rund 27.000 Binnenflüchtlinge sind offiziell im Stadtgebiet untergekommen, tatsächlich dürfte ihre Zahl eher bei 50.000 liegen.
7. Im Bunker
Wirklich sicher fühlen sie sich hier dennoch nicht: Riwne liegt zwar weit im Westen der Ukraine, mehr als 300 Kilometer oder vier Autostunden westlich der Hauptstadt Kiew. Aber eben auch: nur 160 Kilometer von der belarussischen Grenze. Und deshalb warnt die Handy-App „Air Alert!” bei jedem Fliegeralarm, man möge umgehend den nächstgelegenen Schutzraum aufsuchen: „Seien Sie nicht sorglos!“ dröhnt es zum Sirenengeheul auf Ukrainisch oder Englisch aus dem Lautsprecher, „Blindes Vertrauen ist Ihre Schwäche!”
„Man kann sich an diese Fliegeralarme nicht wirklich gewöhnen“, sagt Iryna Dubych, stellvertretende Direktorin im Riwne-Lyzeum Nr. 7. Rund 1200 Kinder lernen hier von der ersten bis zur elften, der Abitur-Klasse. 800 von ihnen pauken Deutsch als erste oder zweite Fremdsprache, und wenn es Luftalarm gibt, manchmal dreimal am Tag, dann brauchen sie gerade mal fünf bis sieben Minuten, bis alle unten im Bunker sind. Stramme Leistung. „Ja“, seufzt die Vizedirektorin mit einem süßsauren Lächeln, „wir haben ja auch viel trainiert“.
Unten wird ein bisschen gelernt, manche machen Hausaufgaben, andere lesen, es gibt kleine Konzerte, einige toben sich aus, andere schieben Langeweile. Jedes Kind hat einen Rucksack parat, mit Trinkwasser, etwas Gebäck, einer Taschenlampe und einer Decke. Am Abend, wenn es wieder mal mehrere Alarme gab, sind die Lehrerinnen und Lehrer fix und alle. „Die Russen wollen uns mürbe machen“, sagt Maryna Kuzmychowa, die unter anderem für Bildung zuständige Bürgermeisterin, „sie wollen, dass wir uns nie sicher fühlen“. Und wie zum Beweis schlägt während des Besuchs der Essener Helfergruppe der Fliegeralarm an.
12.27 Uhr, alle schauen aufs Handy: Nein, keine Übung. Auf der Karte der Warn-App sind alle Regionen der Ukraine tiefrot eingefärbt, und weil die abgeschossenen Raketen bis zu 15 mal die Richtung ändern können, ergeht die freundliche Bitte an alle: „Bitte kommen Sie mit in den Bunker.“ Einige nehmen noch die Kekse und Wasserflaschen auf dem Tisch mit nach unten, vorbei an den Goethe-Bildern der Deutsch-Klassen und dem Wandgemälde eines „typisch deutschen“ Dorfpanoramas, Marke Rothenburg ob der Tauber.
Unten heißt es dann: Warten auf die Entwarnung, die in diesem Fall überraschend schnell nach 17 Minuten erfolgt. Es hätte sonst Stunden dauern können, bis die Fahrt weitergeht. Sollte jemandem hier das Herz in die Hose gerutscht sein, lässt er es sich nicht anmerken. Kindern gelinge das nicht so leicht, sagt die Lehrerin: „Sie weinen oft und schlafen schlecht.“
8. Der Oberbürgermeister
In einer anderen Zeit würde Oleksandr Tretyak beim Abendessen in der BarMaki vielleicht über Fußball reden: Über die Farben Rot und Schwarz, über den NK Weres Riwne und was diesen mit Rot-Weiss in Essen verbindet: das unvollendete Stadion.
Ja, das fertigzubekommen, wäre natürlich großartig, ein Essener wie Stadtdirektor Peter Renzel würde das in Kenntnis des eigenen eckenlosen Fußball-Runds an der Hafenstraße gut verstehen. Stattdessen, erzählt Tretyak, „ist das hier unsere Realität: Unser Vertrauen in Waffen und unser Vertrauen in Gott.“ Er zeigt dem Gast ein Handybild mit dicker Bibel und Sturmgewehr und verrät, dass er samstags jetzt immer Schießübungen macht.
Aus Gründen: Wenige Tage nach Kriegsbeginn, im Februar 2022, haben sie in der Stadt zwei Tschetschenen festgenommen, die wollten ihn, den OB, als einen von rund 50 im Lande entführen. Auf den Handys der mutmaßlichen Entführer entdeckte man Bilder von Tretyak, seiner Frau, seinem Sohn, ja, auch der Schule des Sohnes. Die Familie lebt inzwischen sicherheitshalber in Polen, seit acht Monaten schon, und wenn sie sich nicht gelegentlich besuchen, können sie den 37-Jährigen Familienvater bei seinen beinahe täglichen Video-Botschaften sehen: mal im T-Shirt und Blazer, meist aber in einer olivgrünen Strickjacke, Präsident Selenskyj lässt grüßen.
Wie dieser erweist sich OB Tretyak als ebenso offensiv: weltgewandt und modern einerseits, aber eben auch tiefgläubig und heimatverbunden, mit gewinnendem Lächeln und dem unwiderstehlichem Selbstbewusstsein eines Instinkt-Politikers, der die sozialen Medien bestens zu nutzen weiß.
Drei Minuten und 46 Sekunden investierte Tretyak am 27. Februar, drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, um auf Englisch einen flammenden Hilfsappell per Facebook in die Welt zu senden, und das Video verfehlte seine Wirkung nicht. Sechs Tage später gab es ein fast sechsminütiges Interview mit ihm bei ABC News, CBS zog drei Tage später mit achteinhalb Minuten nach. Es folgte die kanadische Global News und kleinere Sender – und quasi über Nacht war Riwne auf dem globalen Radarschirm aufgetaucht.
Tretyak weiß, dass es nicht anders geht, dass Krieg auch und vor allem Öffentlichkeitsarbeit ist, dass er diesen Spagat hinbekommen muss, zwischen dem Kümmerer vor Ort und der großen weiten Welt. Jeder Familie, die in Riwne ein Kriegsopfer zu beklagen hat, überbringt er persönlich die bittere Nachricht. Es sind die schlimmsten Momente seiner Arbeit, sagt er, und sein Blick geht ins Leere. Aber dann ist da eben auch sein Geschick, Kontakte zu knüpfen, über Grenzen hinweg, seine Charme-Offensive mit dem gewinnenden Lächeln, dem man sich schwer entziehen kann. Also nimmt er alle nicht nur rhetorisch in den Arm und bedankt sich bei den Essener Helfern herzlich dafür, „dass Sie keine Angst haben, zu uns zu kommen“.
Es sind schließlich Zeiten, in denen Eltern ihren kleinen Kindern für den Notfall Namen, Geburtsdaten und Telefonnummern auf die Haut schreiben. Tretyak zeigt ein solches Bild auf seinem Handy: Namen und Zahlen sind auf den Rücken geschrieben, damit die Kinder den Text nicht wegwischen können. „Ja“, sagt Tretyak, diesmal überraschend auf Deutsch: „Das ist Krieg!“
9. Die Partnerstadt
Aber er klingt dabei nicht verbittert, sondern eher kämpferisch. Spricht davon, diesen Krieg wenn, dann ein für allemal zu beenden: „Das ist keine Aufgabe, die wir unseren Kindern überlassen wollen.“ Er sucht Verbündete und hat schon viele auf seiner Seite, verweist nicht ohne Stolz auf die Wappen an der Wand seines Besprechungssaals – eine Vielzahl von Partner-Gemeinden, die Riwne beistehen, zu denen es offizielle Kontakte gibt: von Danzig bis Monaco, vom oberpfälzischen Oberviechtach übers bulgarische Widin bis zum polnischen Zabrze. Dass der Essener Stadtdirektor den Weg in die Stadt am Fluss Ustja gefunden hat – „eine große Ehre für uns“, und vielleicht hänge hier ja auch bald das Essener Stadtwappen mit Krone, Doppeladler und goldenem Schwert auf blauem Grund: „Wir hoffen, dass wir Partner werden.“
Den Wunsch möge Renzel doch an Thomas Kufen weiterreichen, seinen Oberbürgermeister-Kollegen aus Essen. Aber so schnell geht das nicht, das weiß der Stadtdirektor nur zu genau. „Eine Überführung der Solidaritätspartnerschaft in eine klassische Städtepartnerschaft soll zu einem späteren Zeitpunkt möglich sein“, so hatte es der Essener Stadtrat auf Antrag von CDU und Grünen zwar im Mai vergangenen Jahres beschlossen.
Dies offiziell zu besiegeln, ist aber ebenfalls dem Rat vorbehalten – und Renzel geschickt genug, die bis dahin noch gültige Formulierungsgrenze zwischen freundlicher Absichtserklärung und fester Zusage nicht zu überschreiten. „Sie können sicher sein, wir stehen an Ihrer Seite, solidarisch und in Freundschaft“, umschifft er das Thema geschickt, betont im Vier-Augen-Gespräch die Bedeutung des Jugendaustauschs und stößt augenscheinlich auf die Erkenntnis, dass gut Ding auch in diesem Fall noch Weile braucht.
„Essen hat schon so viel getan“, sagt Riwnes Oberbürgermeister Oleksandr Tretyak, „da kann ich jetzt nicht mehr sagen: Das war ein Anfang.“ Sie sind beide schon beim Du angelangt, tauschen Geschenke aus, Renzel hat einen Essener Stadt-Wimpel mitgebracht und dazu eine Uhr mit Essen-Logo, eine augenzwinkernde Erinnerung daran, dass die Uhren in der Ukraine nicht nur anders (nämlich eine Stunde vor) gehen, sondern auch mancher Zeitplan ins Rutschen kommt, wenn es gute Gründe gibt, und die gibt es eigentlich immer. Renzel nimmt es mit Humor: „Wir haben die Uhr, Ihr habt die Zeit“, lacht er.
10. Olga
Kann man seine Zukunft verschlafen? Olga kann. Sie will für einen Besuch mit dem Hilfskonvoi nach Essen mitkommen. Verabredet war das Treffen für die Abfahrt um schlag sechs Uhr in der Frühe, die Reise ist schließlich lang. Das Hotel Ukraine hat in Plastiktüten Lunchpakete geschnürt, doch wer nicht kommt, ist Olga. Die Rezeption ruft sie an, zehn Minuten später sprintet sie durch die Hotel-Lobby.
Man muss kein Ukrainisch können, um aus ihren Gesten zu erkennen: Sie hat verschlafen, es ist ihr fürchterlich peinlich, dabei ist tief beschämt, wer den Grund dafür erfährt. Denn Olga kommt Druzhkivka, einem Dorf, 40 Kilometer von Bachmut entfernt. Das Dauerfeuer dort hält seit Monaten an, mal aus Richtung Slowjansk, mal aus Bachmut. Einschläge jede Nacht. „Ich habe so gut geschlafen, weil es keine Explosionen gab.“
Jetzt sind die ersten 100 Meter im Auto zurückgelegt und Panik überfällt Olga, weil sie in der Handtasche, die nicht größer ist als ein DIN A4-Blatt, ihr Handy nicht findet. Sie bricht in Tränen aus, alle im Konvoi noch mal stopp bitte. Vielleicht verloren? Im Hotel vergessen?
Und dann ist das Handy doch da, falscher Alarm, sie weint vor Erleichterung, und Kilometer um Kilometer fällt die Anspannung von ihr ab. In Friedenszeiten hat Olga in der Verwaltung des örtlichen Krankenhauses gearbeitet. Als die Russen kamen, wechselte sie zur Militärverwaltung, um die humanitäre Hilfe in der Region zu managen und die Evakuierung zu organisieren. Ihre Kinder waren darüber ziemlich wütend, der Sohn ist 17, die Tochter seit ein paar Tagen 24. Letztere hatte zuletzt in Charkiw gelebt, wurde „von Putin beschossen“, einen Monat lang hauste sie auf dem Korridor eines Hauses. „Sie hatte große große Angst, also brachte ich sie nach Deutschland“, sagt Olga.
Sie hingegen will nur etwas Fronturlaub machen, ihre Kinder besuchen. Und dann geht sie wieder zurück? Wenn die Lage es erlaubt: „natürlich“, sagt sie. In zwei, drei Wochen vielleicht, mal sehen.
Auf der Rückfahrt von Riwne nach Essen schüttet es wie aus Eimern, Olga holt nach ein paar Telefonaten eine Mütze Schlaf nach. Kann man gut gebrauchen, die Zeit im Frieden gilt es zu nutzen.
Vielleicht sind es am Ende ja nicht die Männer mit ihren großkalibrigen Knarren im Keller, sondern die Frauen mit ihrem Mut, die einen solchen Krieg entscheiden.