Essen. Selbst im Rathaus ist der Ukraine-Krieg allgegenwärtig. Und eine Bus-Werbung signalisiert: In Riwne darf man weiter auf das Revier setzen.
Sie sind gerade beim Hauptgang angelangt, gegarter Kalbsrücken mit Pfifferlingsrahm und Spargel, als der ferne Krieg einen plötzlich auch in Essen einholt: Luftalarm in Riwne meldet die Warn-App, und Oleksandr Tretyak, der Bürgermeister der ukrainischen „Solidaritäts-Partnerstadt“, wirft beim Mittagessen mit seinem Amtskollegen Thomas Kufen in der 22. Rathaus-Etage einen verstohlenen Blick aufs Handy. Nein, der Feind lässt ihnen keine Atempause. Umso dankbarer ist man für so viele Freunde.
Essen gehört dazu: Aus keiner anderen Stadt sind mehr Hilfsgüter in die ukrainische Großstadt, vier Autostunden westlich von Kiew, geliefert worden. Für diese solidarische Hilfe persönlich Danke zu sagen, auch deshalb ist Tretyak ins Revier gekommen. Sicherheitshalber ohne große öffentliche Ankündigungen, er hat in der Vergangenheit schließlich auf einer Entführungs-Liste gestanden.
Gut 8000 Ukrainer haben in Essen eine neue vorübergehende Heimat gefunden
In Essen ist Tretyak gleichwohl umzingelt von Menschen, die es gut mit ihm und seiner Stadt meinen: „Ich bin extrem beeindruckt von dem, was ich hier gesehen habe“, sagt er, nachdem er in Werden mit Vertretern dreier Hilfsinitiativen zusammengetroffen ist und im Kardinal-Hengsbach-Haus ukrainische Landsleute gesprochen hat – ein paar Dutzend von jenen gut 8000, die in Essen eine neue vorübergehende Heimat fanden.
„Ausnahmslos alle waren sehr dankbar und zufrieden für die Hilfe“, betont Tretyak, der seinen Blitzbesuch in Essen auch zu einem Informations-Besuch macht: mit Terminen bei den Entsorgungsbetrieben und im Stadion an der Hafenstraße, bei der Wirtschaftsförderung und der Feuerwehr sowie der Ruhrbahn-Leitstelle.
In Riwne hat man „andere Sorgen, als irgendwelche Bändchen durchzuschneiden“
Ab Mittwoch fährt ein Linienbus mit großformatiger Werbung für die Solidaritäts-Partnerschaft von Essen und Riwne durch die Stadt – ein Signal der Freundschaft, die vielleicht irgendwann in eine offizielle Städtepartnerschaft mündet. Diese offiziell in die Wege zu leiten, „war in diesen Tagen kein Thema zwischen uns“, sagt Essens OB. Gleichwohl, Thomas Kufen scheint nicht abgeneigt: „Die Freundschaften, die schon entstanden sind, könnten dafür ein gutes Fundament sein.“ Derzeit allerdings gebe es in Riwne wohl „andere Sorgen, als irgendwelche Bändchen durchzuschneiden“.
Das ausgedünnte Nahverkehrs-Netz zum Beispiel, weil viele Linienbusse zum Fronteinsatz an die ukrainische Armee abgegeben wurden. Um das öffentliche Leben aufrechtzuerhalten, so klingt es, würde Tretyak den Werbe-Bus am liebsten bis in seine 1600 Kilometer entfernte Heimatstadt steuern.
Als wär’s von einem anderen Planeten, „aber dieser andere Planet heißt Krieg“
Immerhin, Kufen verspricht weitere Unterstützung aus Essen. Auch deshalb, weil Riwne als „sicherer Hafen“ für viele Binnenflüchtlinge des Krieges gilt. 30.000 leben offiziell in der Stadt, und neuerdings haben hier auch zwei „Exil“-Stadtverwaltungen aus Frontstädten ihr Lager aufgeschlagen, weil deren Städte frontnah buchstäblich unter Beschuss stehen.
„Das ist schon etwas, was einen anfasst“, meint Oberbürgermeister Thomas Kufen mit Blick auf Amtskollege Tretyak: „diese sehr routinierte Beschreibung des Kriegs-Alltags, und wenn er im nächsten Atemzug davon spricht, wo wir zukünftig zusammenarbeiten können: Das klingt, als wär’s von einem anderen Planeten, aber dieser andere Planet heißt Krieg.“
Beim Empfang für den ukrainischen Gast sind sie beim Nachtisch angekommen. Crème Brûlée mit Erdbeersorbet und Schokoladencrumble, danach heißt es Abschied nehmen. Oleksandr Tretyak fährt weiter in Richtung Berlin-Pankow, auch dorthin haben die Riwner freundschaftliche Bande geknüpft. Noch bevor Tretyak dort ankommt, meldet sich wieder die Warn-App aus der Heimat: Luftalarm. „Bitte suchen Sie einen Schutzraum auf.“