Essen. Bei vielen schwindet die Zuversicht, zurück in die Heimat zu können. Die Stadt reagiert – und setzt auf Integration auch in Jobs.
Als der kleine Yehor auf die Welt kam, heulten draußen vor der Tür die Sirenen. Es war der 25. Februar 2022, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine gerade mal einen Tag alt, und kaum war die Nabelschnur zu Mama Zoja durchtrennt, war der kleine Mann zum ersten Mal auf der Flucht – wenn auch einstweilen nur vom Kreißsaal des Krankenhauses in den hauseigenen Luftschutzkeller. Sechs Tage später dann ging es tatsächlich auf große Fahrt: von Fastiw, einer mittelgroßen Stadt, eineinhalb Autostunden südwestlich von Kiew, nach Essen, wo er am 5. März eine neue Heimat fand. Der Vater blieb als Freiwilliger in der Armee zurück.
Sozialamts-Leiter Bode: „Die Menschen kommen genauso traumatisiert an wie am ersten Tag“
Zoja und Yehor – zwei von über 10.100 Menschen aus der Ukraine, die in den vergangenen zwei Kriegsjahren in Essen Schutz gesucht und gefunden haben. Und wenn auch die große Flüchtlingswelle längst abgeebbt ist – in diesen Tagen stehen immer wieder Männer, Frauen, Kinder aus dem überfallenen Land vor der Tür des „Welcome Centers“ an der Steubenstraße. 30 waren es in der zweiten Februar-Woche, 28 in den sieben Tagen zuvor, und sie kommen, weiß der Leiter des Amtes für Soziales und Wohnen, Stephan Bode, „genauso traumatisiert an wie am ersten Tag“.
Menschen mit ein paar Habseligkeiten im Koffer, aus Awdijiwka, Robotyne, Slowjansk oder sonstwo vor Tod und Zerstörung geflohen. Oder auch nur aus purer Angst. Auseinandergerissene Familien, die der Krieg selbst mehr als 2000 Kilometer weiter westlich jederzeit unvermittelt einholen kann: der gefallene Bruder, das zerstörte Haus, die vorrückende Front – alles nur eine WhatsApp-Nachricht oder eine Meldung bei Signal entfernt. Welche Zusammenbrüche das auslösen kann, haben sie im Sozialamt mehr als einmal erlebt. „Da wird einem ganz anders.“
Von Zoya und Yehor gibt es längst auch schöne Bilder: einen Schnappschuss im Imbiss, das Foto neben dem prächtig geschmückten Weihnachtsbaum im Limbecker Center, eine große gesellige Runde am langen Tisch in irgendeinem Wohnzimmer. Es muss ja irgendwie weitergehen, und tatsächlich: Wenn sich denn in den zwei Jahren etwas geändert hat, dann das Zug um Zug schwindende Gefühl im Kreis der Geflüchteten, hier eh nur „auf dem Sprung“ wieder zurück in die alte Heimat zu sein.
Je mehr Ukrainer sich entscheiden hierzubleiben, desto mehr Wohnraum wird benötigt
„Die Menschen haben sich gezwungenermaßen darauf eingerichtet, länger zu bleiben, als sie ursprünglich wollten“, das bekommt Sozialamts-Leiter Bode von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mehr denn je gespiegelt. „Etwa ein Drittel will wieder zurück“, schätzen sie im Amt. Aber zurück wohin eigentlich? Die Frage lautet ja stets: Leben die Verwandten noch, die Freunde? Ist mein Haus noch da? Das Quartier?
Oft wird ein Nein die Antwort sein, weshalb die Stadt sich mehr und mehr gefordert sieht, die ukrainischen Zuwanderer in ihrer neuen Heimat zwischen Karnap und Kettwig in Wohnungen zu vermitteln. Das funktionierte in der Vergangenheit erstaunlich gut, nicht zuletzt, weil hier lebende Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Landsleute mit offenen Armen aufnahmen und teils über Wochen und Monate provisorisch beherbergten. So kamen von den 10.142 Flüchtlingen, die seit Januar 2022 erstmals in Essen erfasst wurden, mehr als die Hälfte, nämlich 5610, bei Verwandten, Freunden und Bekannten unter. „Nur“ gut 4200 landeten in städtischen Unterkünften oder solchen des Landes, knapp 200 übernachteten ein paar Tage in preiswerten Hotels.
Mit 9300 Personen sind die ukrainischen Landsleute die viertgrößte Ausländer-Gruppe in Essen
Die Hotel-Zeiten sind längst vorbei. Und nicht alle, die nach ihrer Flucht aus der Ukraine hier erstmals Kontakt mit den Behörden aufnahmen, leben überhaupt noch in Essen. Laut städtischer Einwohner-Statistik sind von den mehr als 10.000 Personen rund 7600 hiergeblieben. Gemeinsam mit den knapp 1700, die schon vorher in der Stadt lebten, schoben sich die Ukrainer in der Liste der größten Ausländergruppen Essens damit zahlenmäßig vom 23. auf den 4. Rang – hinter Türken, Polen und Syrern.
Keine Hinweise auf Betrug beim Bürgergeld
Nach Schlagzeilen über eine ukrainische Familie, die in Baden-Württemberg im größeren Stil Bürgergeld bezog, obwohl sie längst wieder in der Westukraine lebte, hat die Stadt die Lage vorsichtshalber auch hier Stichproben durchgeführt. Ergebnis: Vergleichbare Fälle „können wir in Essen in keiner Weise bestätigen“, so Sozialdezernent Peter Renzel.
Als hilfreich gilt dabei, dass jede Einrichtung datierte Postlisten führt, in die die Heimbetreiber eintragen, wann Schriftstücke, von Ämtern oder dem Job-Center etwa, eintreffen und wann sie abgeholt werden: „Irgendwas kommt immer.“ Bleiben die Schreiben länger als drei Tage liegen, löse dies umgehend eine Kontrolle aus.
Für den Arbeitsmarkt ist das eine gute Nachricht, davon ist Sozialdezernent Peter Renzel überzeugt: Die Trauer über die verlorene Heimat sei zwar riesig, „aber die Menschen sind unglaublich dankbar für die Hilfe – und hochmotiviert, in Integrationskurse zu gehen“. Drei Viertel haben eine abgeschlossene Ausbildung, „die wollen arbeiten“, weshalb die bislang eher überschaubare Job-Quote von fünf Prozent „deutlich an Fahrt aufnehmen wird“, so Renzel.
Knapp 4500 Ukrainer zählen zu diesen „erwerbsfähigen Leistungsempfängern“, zwei Drittel sind Frauen, viele gut ausgebildet, oft mit akademischem Abschluss. Ein Schatz, den es zu heben gilt, betont Renzel, der nichts davon hält, qualifizierte und mitunter von der deutschen Bürokratie förmlich noch nicht anerkannte Kräfte in Billig-Jobs zu drängen, nur damit man in der Statistik besser dasteht: „Sobald diese Leute die Sprache können, landen die auch im ersten Arbeitsmarkt.“
Was nicht bedeutet, dass es keine Probleme gibt: Der Integrationswille sei unterschiedlich ausgeprägt, weiß etwa Marghalei Nayebkhail-Popal, Sozialarbeiterin in einer Flüchtlingsunterkunft von Caritas-SkF in Altenessen. Immer noch hofften eine ganze Reihe Geflüchteter darauf, dass der Krieg bald endet und sie nach Hause zurückkehren können. Manche reisten regelmäßig zur polnisch-ukrainischen Grenze, um dort Verwandte zu treffen oder in der Ukraine ihre Rentenzahlung abzuholen.
Grundschul-Plätze sind schnell verfügbar, bei Kitas oder weiterführenden Schulen dauert es deutlich länger
„Gerade Familien, deren Väter und Männer in der Ukraine kämpfen, sind zerrissen. Ihnen fällt es schwer, hier anzukommen“, sagt Nayebkhail-Popal. Manche fangen das Trinken an, obwohl der Konsum von Alkohol in der Unterkunft verboten ist. Die Sozialarbeiterin führt das auf die schwierige Situation der Geflüchteten zurück: „Viele haben Angehörige und Freunde im Krieg verloren und kommen über den Verlust nicht hinweg. Manche leben auch in ständiger Angst um ihre Familie.“
Auch hakt es noch dort, wo kleine Kinder betreut werden müssen, vor allem bei der Zahl der verfügbaren Kita-Plätze. Grundschul-Plätze dagegen sind im Schnitt nach gut einer Woche verfügbar, bei weiterführenden Schulen braucht es laut Schulverwaltung durchschnittlich sieben Wochen. Noch länger warten Jugendliche auf den Einstieg in Berufskollegs: zwölf Wochen.
Wo all diese Zahlen landen, sollte es bei verschlechterter Kriegslage eine neue Flüchtlingswelle aus der Ukraine geben? Sozialamts-Leiter Stephan Bode winkt ab: Das lässt sich, betont er, kaum vorhersagen, schon gar nicht für Szenarien mit jenen gewaltigen Zahlen, die im Falle einer Kapitulation des von Russland überfallenen Landes zu erwarten wären. „Wir betrachten permanent Szenarien“, so Bode, „hören sehr genau zu, was da an Einschätzungen kommt“.
Eine Flüchtlingsunterkunft kommt vom Netz – und eine neue ist 2024 bislang nicht geplant
Und noch gibt es ja Kapazitäten in Flüchtlingsheimen, jeder dritte Platz von 2426 rechnerisch verfügbaren ist derzeit frei. Das gibt die Möglichkeit, das Handball-Leistungszentrum an der Raumerstraße in Frohnhausen demnächst endgültig freizuziehen, zumal zwei „neue“ Heime, an der Königgrätz- und der Franziskanerstraße in absehbarer Zeit zur Verfügung stehen. Der Aufbau weiterer Unterkünfte ist zumindest für dieses Jahr nicht geplant.
Und Zoja und Yehor? Am Sonntag feiern sie den zweiten Geburtstag, ein bisschen Freude, obwohl sie mit den Nerven am Ende sind. Und wenn sich Zoha etwas für ihren Sohn wünschen dürfte, dann doch nichts anderes als das Ende dieses Krieges. Unter russischen Besatzern würden sie nicht leben wollen, sagt sie. Das signalisiert auch schon der kleine Yehor mit seinem Baby-Strampler, auf dem über dem Herz in den ukrainischen Landesfarben Blau und Gelb dieser Spruch steht: „Народжений бути вільним“ - „Geboren, um frei zu sein.“