Essen. Aalto-Ballett zeigt das mit dem „Tanz-Oscar“ geadelte Handlungsballett von Johan Inger. Eine Begegnung mit dem Choreografen.

An der Kasse des Aalto-Theaters ist was los: „Ich möchte Karten für ,Carmen‘. Den Nachnamen weiß ich nicht“, witzelt ein Herr im fortgeschrittenen Alter. Ruhrgebietshumor. Er meint die „Carmen“ von Star-Choreograf Johan Inger. Eine Dozentin will sich mit ausländischen Studierenden eine Vorstellung ansehen und fragt auf Englisch: „Is it nice?“ Nein, dieses Ballett ist alles andere als nett. Es ist aufregend, spannend, aktuell. Es ist ein Stück über männliche Gewalt gegen Frauen, das seit neun Jahren weltweit Furore macht. Die stürmisch gefeierte Essener Premiere (13.10.) reiht sich in die Erfolge ein.

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Essener Ballett-Intendant seit Jahren mit Johan Inger im Gespräch

Johan Inger sieht abgekämpft aus. In den letzten anderthalb Jahren hat er fünf Werke choreografiert, die wegen der Corona-Pandemie nicht aufgeführt werden konnten. Dennoch stimmt er der Einstudierung seiner Version von „Carmen“ zu. „Seit Jahren bin ich mit Marek Tuma in Kontakt. Er hat immer wieder nachgefragt, ob ich etwas am Aalto-Theater machen würde und jetzt, zu Beginn seiner Intendanz (mit Armen Hakobyan, Anm. der Redaktion), hat es geklappt“, so der Choreograf, dessen Arbeit „Home and Home“ bereits 2007 in Essen zu sehen war.

Seine Basis war und ist das klassische Ballett. Als Johan Inger am Königlich Schwedischen Ballett Tänzer war, gehörten klassische Ballette zu seinem abendlichen Einsatz. „Ich war nie der Prinz, ich habe Charakterrollen getanzt“, sagt der 57-Jährige, der mit seiner Familie in Sevilla lebt. In „La Fille mal gardee“ oder „Der Nussknacker“ war er zu erleben. „Ich habe es genossen, klassisches Ballett zu tanzen, ansehen mochte ich es nicht.“ Modernes Ballett reizte ihn weit mehr und er ging ans renommierte Netherlands Dance Theatre, wo er unter der Leitung des legendären Jiří Kylián zu choreografieren begann.

Der schwedische Choreograf Johan Inger im Bühnenbild seines Balletts „Carmen“ im Essener Aalto-Theater.
Der schwedische Choreograf Johan Inger im Bühnenbild seines Balletts „Carmen“ im Essener Aalto-Theater. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Von 1995 bis 2015 entstanden ausschließlich moderne Stücke, „bei denen jeder Zuschauende seine eigene Interpretation finden kann“. Dann kam „Carmen“, das er für die Compañía Nacional de Danza Madrid entwickelte. „Man braucht schon einen guten Grund, um ,Carmen‘ auf die Bühne zu bringen“, so Johan Inger. Er fand ihn in der Novelle von Prosper Mérimée aus dem Jahr 1845, auf dem „Carmen“ beruht. „Das Buch ist sehr brutal, mehr als jede Oper. Man denkt dabei an häusliche Gewalt. Jeden Tag werden Frauen von Männern ermordet“, erklärt er.

Dramatische Szenen des Balletts „Carmen“ hier im Video

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Der Zugang zu seinem Handlungsballett ist zeitlos. Er kreierte es zu Musik von Georges Bizet, Rodion Schtschedrin und Neukompositionen des Spaniers Marc Álvarez. 2016 erhielt der Choreograf für sein erstes abendfüllendes Ballett den Prix Benois de la Danse in Moskau, den „Tanz-Oscar“. Sein erfolgreichstes Werk würde er selbst „Carmen“ nicht nennen und fügt „Walking Mad“, „Rain Dogs“, „Bliss“ und „Passing“ als „Wow-Stücke“ hinzu.

Dennoch ist es eine ganz besondere Interpretation des Stoffes. Er erzählt diese Liebestragödie um Carmen, Don José und den Torero, die voller Leidenschaft, Eifersucht, Rache und Hass ist, aus der Perspektive eines Kindes. „Es ist eine geheimnisvolle Figur. Es könnte Carmens ungeborenes Kind sein oder das jüngere Ich von José“, meint Johan Inger, der seinen Blickwinkel einnimmt. Und es erlebt Gewalt, wie sie ein Freund Ingers erfahren hat, als er zwischen die Fronten der streitenden Eltern geriet. „Diese zehn Minuten änderten alles und ich fragte mich: Wird sich diese Gewalt wiederholen?“ Die unschuldig weiße Kleidung des Kindes verwandelt sich in schwarze.

Essener „Carmen“ - die Infos

Das Handlungsballett „Carmen“ von Johan Inger hat am Aalto-Theater eine umjubelte Premiere gefeiert. Weitere Termine: 19. und 27. Oktober.

Die Besetzung: Yuki Kishimoto (Carmen),  Wataru Shimizu (Don José), Davit Bassénz (Zuniga), William Emilio Castro Hechavarría (Escamillo), Sena Shirae (Kind).

Dauer der Vorstellung: 1 Stunde 50 Minuten, eine Pause. Die Aufführung ist, laut Aalto-Theater, ab 16 Jahren geeignet.

Karten und Termine unter 0201 8122 200 und www.theater-essen.de

Gewalt bricht auf Essener Bühne in abstraktem Ambiente aus

Für Josés Leben ist Gewalt unausweichlich. In einem kühl-abstrakten Bühnenbild (Curt Allen Wilmer und Leticia Gañán Calvo) und spanisches Flair ausstrahlenden Kostümen (David Delfin) trifft die radikal unabhängige Carmen (natürlich in Rot) auf den Mann, der ihr verfällt. „Sie weiß, dass sie Männer reizt. Sie will frei sein, keine Kompromisse machen. Sie hat die Sexualität eines Mannes, der sich nimmt, was er will“, beschreibt Johan Inger die Titelfigur. Ihr gegenüber steht ein Macho-Mann, „den die Gefühle überwältigen und besitzergreifend werden lassen“.

Die Essener Tänzerinnen und Tänzer, die „Carmen“ auf die Bühne bringen, begeistern den gebürtigen Stockholmer. „Sie sind sehr offen, klassisch und modern so gut, so hungrig auf das Stück“, lobt der Choreograf, der seiner Kreation zuversichtlich den Feinschliff verpasst hat. „Wir werden das schon hinkriegen.“ Und, was wird er als Nächstes angehen? „Nichts“, sagt er gelassen. „Ich habe so viel gemacht in den letzten Jahren. Ich mache eine kreative Pause.“

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