Essen. Mit den ewigen Themen erkundet der legendäre Choreograf Jiří Kylián den Menschen. Facetten seiner Arbeit präsentiert das Aalto-Ballett in „Archipel“

Jiří Kylián ist eine äußerst lebendige Ballettlegende. Der Choreograf und ehemalige Direktor des Nederlands Dans Theaters (NDT) beeinflusste den modernen Tanz als Surrealist, Tragikomiker und Philosoph über Jahrzehnte. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass weltweit ein Stück von ihm aufgeführt wird. Im Aalto-Theater sind vier Inseln seines Schaffens von 100 in dem Abend „Archipel“ zu sehen. Er selbst hat eine Woche mit dem Essener Ballett zu den Endproben verbracht. Dagmar Schwalm hat mit dem 69-jährigen Tschechen zurückgeblickt und nach vorn.

Herr Kylián, nicht jede Compagnie darf Ihre Stücke aufführen. Wie kommt die Essener zu der Ehre?

Jiří Kylián: Man muss das Vertrauen haben, dass Tänzer und Direktion sich darum kümmern, die Stücke authentisch aufzuführen. Vor zwei Jahren habe ich mir die Compagnie angeschaut. Einen Tag, nachdem der Pfingststurm gewütet hatte. Einige Tänzer sind anderthalb Stunden gelaufen, um mir zu zeigen, was sie können. Das hat mich überzeugt.

Sie nehmen sich immer wieder die Zeit, um mit Tänzern Ihre Stücke einzustudieren.

Kylián: Es ist mühsam, weil ich seit einigen Jahren klaustrophobisch bin und nicht mehr fliegen kann. Aber ich kann ihnen zeigen, dass alles einen Sinn hat, dass sie eine Qualität hervorbringen können. Ich passe die Choreografie auch an. Sie ist nicht heilig. Manchmal wird sie besser.

„Sechs Tänze“ (1986), „Petit Mort“ (1991), „Wings of Wax“ (1999) und „27’52“ (2002) sind an einem Abend zu sehen. Wie kam die Auswahl zustande?

Kylián: Ich habe ausgewählt, was zu den Tänzern passt, worin sie sich finden können. Und ich wollte die Compagnie in ihrer Farbigkeit zeigen. Es ist etwas Variationsreiches dabei, etwas Humorvolles. Es sind alles Stücke, bei denen ich einen Riesenspaß hatte, sie zu kreieren.

Lernt das Publikum dabei den Menschen Jiří Kylián kennen?

Kylián: Ich glaube nicht. Ich bin kompliziert. Vielleicht kann man eine Facette von mir erkennen

Mit „Sinfonietta“ gelang Ihnen 1978 der internationale Erfolg. Wer hat dazu beigetragen - das Nederlands Dans Theater?

Kylián: Auf jeden Fall. Aber angefangen zu choreografieren habe ich schon bei John Cranko in Stuttgart. Er gab talentierten Tänzern die Gelegenheit, mit der Compagnie zu arbeiten. Das habe ich ans NDT weitergetragen. Es war eine kreative Brutstätte. Renommierte Choreografen wie Hans van Manen und Glen Tetley habe ich zu uns geholt. William Forsythe, Mats Ek, Nacho Duato haben bei mir angefangen.

„Ich habe Angst vor Langeweile“

Die Musik und das zutiefst Menschliche haben Sie in Einklang gebracht. Welche Themen konnten Sie immer wieder begeistern?

Kylián: Das Schlimmste und Banalste: die Liebe und der Tod. Dennoch ist die Ansicht immer frisch und neu. Mit den Tänzern zu arbeiten, ist jedes Mal eine Entdeckungsreise. Meine Arbeit ist sehr verschiedenartig. Ich wollte den Kritikern keine Chance geben, mich festzulegen.

Warum haben Sie keinen Wert auf einen eindeutigen Stil gelegt?

Kylián: Erfolgsformeln machen mich unruhig. Mich interessiert der Reichtum, den ein Mensch in sich trägt, die Vielschichtigkeit.

Die kurze Form haben Sie stets bevorzugt, statt Handlungsballette auf die Bühne zu bringen.

Kylián: Ich habe Angst vor Langeweile. Wenn du etwas in einer Minute sagen kannst, warum schwätzt du dann eine halbe Stunde.

Rund 40 Jahre haben Sie Tanzkunst kreiert. Seit Jahren ordnen Sie Ihr Erbe. Ist das nicht zu früh?

Kylián: Ich werde im nächsten Jahr 70. Wenn mir jetzt etwas zustößt, hinterlasse ich kein Chaos. Das war mir wichtig. Ich habe eine Stiftung gegründet, die jungen Menschen hilft, eine Stiftung und das Kylián-Archiv in Prag und eine Firma, die dafür sorgt, dass meine Werke ordentlich aufgeführt werden. Mein Testament habe ich vor zwölf Jahren gemacht, als meine Tochter geboren wurde. Man sollte es seinen Nachkommen nicht so schwer machen.

Ist damit das choreografische Schaffen abgeschlossen?

Kylián: Ich habe es nicht an den Nagel gehängt. Gerade habe ich eine Arbeit in Monaco gemacht. Aber ich interessiere mich jetzt mehr für Film und Fotografie und die künstlerische Verwandlung Sabine Kupferbergs. Mit Fotos von ihr habe ich eine Ausstellung geplant, die am 7. Mai in Den Haag eröffnet wird. Sie ist eine herausragende Künstlerin, das muss mal gesagt werden . . .

Und sie war Tänzerin und ist Ihre Frau und Muse seit vielen Jahrzehnten.

Kylián: Wir sind seit den 60er Jahren zusammen und ergänzen uns auch nach all den Jahren erstaunlich gut.