Essen. 80 Menschen mussten am Freitagabend (21.6.) wegen eines instabilen Bergbaustollens ihr Haus in Essen verlassen. Die Bewohner sind fassungslos.
„50 Jahre ist das Loch da und dann macht es mitten in der Nacht bum bum an der Tür. Da wurde richtig vorgekloppt“: Günter Rudolf ist 86 Jahre alt und versteht die Welt nicht mehr. Mit seiner Ehefrau Margret (89) musste der Essener, wie mehr als 80 andere Anwohnerinnen und Anwohner auch, von jetzt auf gleich die Wohnung verlassen. Die „Tragfähigkeit“ ihres Hochhauskomplexes sei nicht mehr gewährleistet, hieß es, ein alter Bergbaustollen schuld an dem Ganzen.
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Ein Nachbar erzählt am nächsten Morgen im Gemeinschaftsraum der provisorischen Notunterkunft in Rüttenscheid: „Mir wurde gesagt: ‚Nimm nur das Nötigste und gut.‘ Das habe ich dann auch gemacht: Bankkarte, Handy, Unterwäsche, ein paar Hosen und Socken. Im Moment bin ich obdachlos.“ Eine Frau, die schon seit mehr als 50 Jahren in dem Hochhaus zu Hause ist, ergänzt lautstark: „Ich habe nur eine Buxe dabei.“ Sie lächelt zwar, aber die Geschehnisse der vergangenen Stunden sieht man ihr an.
Hochhaus in Essen hat „langjährige Bewohnerstruktur“
Günter Rudolf ist noch immer fassungslos darüber, auf welche Art und Weise die Hochhäuser im Spervogelweg mit den Hausnummern 26 und 28 evakuiert wurden. 20 Minuten hatten die meisten Zeit, um das Wichtigste einzupacken, mache berichten gar von einem noch kürzeren Zeitfenster. Rudolf: „Die hätten doch genauso gut am nächsten Tag kommen können – wir sind ja alle keine 20 mehr.“ So jung ist auch Josip Spiljak nicht, der zusammen mit seiner Frau Dragica (78) im Erdgeschoss des Wohnkomplexes seit rund 25 Jahren lebt, und wegen der Lage direkt am Eingang regelmäßig Pakete für die Nachbarn annehme. Er sei nicht gut zu Fuß, zeigt mit seiner Hand auf den unteren Rücken. Die Bandscheiben... Sieben OPs habe er schon über sich ergehen lassen müssen. Viele der Hochhausbewohner sind älteren Semesters. Essens Stadtsprecherin Silke Lenz spricht von einer „langjährigen Bewohnerstruktur“.
Dragica Spiljak berichtet, dass sie zusammen mit ihrem Mann Josip gegen 2.30 Uhr an der Müller-Breslau-Straße in Rüttenscheid angekommen sind – im ehemaligen Dorint-Hotel, das heute eine Flüchtlingsunterkunft ist. Einrichtungsleier Markus Fischer vom Deutschen Roten Kreuz sagt, dass die Unterkunft 190 Plätze hat, 92 seien derzeit von Geflüchteten und Asylbewerbern belegt. „34 Menschen aus Freisenbruch sind jetzt dazugekommen.“ Sie würden bis auf Weiteres voll versorgt.
Anwohner aus Essen-Freisenbruch sind verunsichert
Bis auf Weiteres? Ja, denn noch ist völlig unklar, wie lange der Gebäudekomplex in Freisenbruch unbewohnbar ist, wie lange die Arbeiten an dem Hohlraum im Untergrund andauern werden. Die Unsicherheit nagt an den Bewohnern. Eine Frau sagt im Gemeinschaftsraum: „Die sollen mal rabotti, rabotti machen. Hier bleibe ich keine zwei Monate.“ Dragica Spiljak ist trotz der kräftezehrenden Nacht mit wenig Schlaf etwas milder gestimmt: „Ich würde jetzt erst einmal bis Montag warten, bis uns etwas gesagt wird.“ Andere Stimmen üben deutliche Kritik am Informationsfluss. Es sei ja Wochenende, heißt es mit spöttischem Unterton.
Essener Hochhaus evakuiert: Bergbaustollen instabil
Einer, der ganz besonders auf Informationen hofft, ist jünger als die meisten seiner Nachbarn: Daniel Siewerth ist 32 Jahre alt, wohnt in der sechsten Etage. Selbstständig sei er, arbeite auf Honorarbasis von zu Hause für verschiedene Unternehmen im IT-Bereich. In seiner Wohnung würde er am Standrechner sein Geld verdienen. Der Computer steht jetzt aber noch in der Wohnung in Freisenbruch. Und selbst wenn er in den nächsten Tagen dort hinein kommen dürfte, um weitere Dinge zu holen, fragt er sich: „Wo soll ich den Rechner aufbauen? Wie soll ich mein Geld verdienen? Bin ich bald obdachlos?“
Evakuierung in Essen: „Habe gedacht, es könnte ein Irrer sein“
Eindrücklich beschreibt der 32-Jährige auch, wie die Evakuierung am Vorabend ablief. Nach elf Uhr sei heftig an seiner Wohnungstür geklopft worden. Schon vorher hatte er mitbekommen, dass draußen auf dem Hof Flutlichter und Dutzende Ordnungsamtsmitarbeiter zu sehen waren und das Nachbarhaus „schon fast gestürmt“ wurde. Was genau überhaupt los sei, habe er erst eine Stunde danach in einer Tiefgarage erfahren, wo er und alle seine Nachbarn zusammengerufen wurden. „Am Anfang hat man mir gar nichts gesagt“, so Siewerth über die spärlichen Informationen. „Ich habe gedacht: Es könnte ein Irrer sein, eine Bombe, eine Razzia.“ Nichts von alledem sollte sich bewahrheiten.
Etliche Menschen in der Nachbarschaft hatten unter der Woche mitbekommen, dass vor Ort Probebohrungen durchgeführt wurden. Günter Rudolf erzählt, dass er den Behörden in dem Rahmen auch Zutritt zu seinem Keller gewähren sollte, was er auch getan habe. Dass er aber mitten in der Nacht seine Wohnung wegen eines uralten Lochs im Untergrund fluchtartig verlassen musste: Nein, dafür hat er kein Verständnis.
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