Essen. Als er 2005 in den Landtag kam, war er der Gegenentwurf zu SPD-Strippenzieher Nowack – und bleibt bis heute Sehnsuchtsfigur der Essener Genossen.
Ein ums andere Mal hoffnungsfroh zu starten und hernach wortreich erklären zu müssen, warum es wieder mal nix wurde mit dem Erfolg der Genossen – das war sechs quälende Jahre sein undankbarer Job. Im „Lost Place“-Ambiente einer Garage im Innenhof der Parteizentrale fasste Thomas Kutschaty als Parteivorsitzender dann das für die SPD schier Unerklärliche enttäuscht in Worte. Und erinnerte damit gelegentlich an all jene Trainer von Rot-Weiss Essen, die der frustrierten Fan-Schar immer wieder den verpatzten Aufstieg nahebringen mussten. Umso mehr setzt die örtliche Sozialdemokratie auf die Verheißung dieses Wochenendes, an dem sich alles aufs Schönste fügen könnte: für die Männer in Rot-Weiss. Und für den Mann in Rot.
Am Samstag der Sprung von RWE in die dritte Liga. Und am Sonntag der von Kutschaty in die erste – so sieht er aus, der Traum der Genossen. „NRW-Ministerpräsident Thomas Kutschaty“, „designierter“ natürlich, das klingt zwar noch etwas ungewohnt, zumal laut Umfragen ja die Hälfte der bundesdeutschen Befragten mit dem Namen noch nichts anzufangen weiß. Aber das könnte sich, ein entsprechendes Wahlergebnis vorausgesetzt, am Sonntagabend mit der Tagesschau schon ändern.
Als im Dezember 2004 für den Eisenbahner-Sohn die Weichen gestellt wurden
Und während die Republik dann auf die Parade-Geschichte vom Bildungsaufstieg aus einer Eisenbahner-Familie schaut, erinnert sich zumindest das etwas ältere Essener Publikum, wie an einem Dezember-Abend des Jahres 2004 im Messehaus Süd, Saal Rheinland, die Weichen für Kutschatys Karriere gestellt wurden.
Denn so viel wissen auch sportliche Laien vom Fußball: Der Aufstieg des einen setzt meist den Abstieg eines anderen voraus, und bei diesem anderen handelte es sich um Willi Nowack: über viele Jahre Landtagsabgeordneter, SPD-Fraktionschef und schier allmächtiger Strippenzieher, der sich mit seiner Verquickung von Geschäft und Mandat und laufenden staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen auch auf Landesebene zur Persona non grata gemacht hatte. SPD-Landeschef Harald Schartau legte sich damals persönlich gegen Nowack ins Zeug.
Wenn die SPD sich einen Kandidaten hätte backen wollen, dann einen wie Kutschaty
Und Thomas Kutschaty nutzte die Gelegenheit: Er war der perfekte Gegenentwurf zu Nowack, ein junger, smarter, unvorbelasteter Jurist aus dem Nordwesten der Stadt, SPD-Mitglied seit 1986, erst Juso, dann Bezirksvertreter, später Ratsmitglied mit Perspektive für mehr: Wenn die Essener Genossen sich einen Kandidaten hätten backen wollen, dann so einen wie den damals 36-Jährigen aus Schönebeck.
Vielleicht liegt in jenen Tagen, ganz sicher aber auch in seinem Charakter der Grund dafür, dass ihn die Essener Sozialdemokraten lange Zeit und viele wohl immer noch für eine Lichtgestalt ansehen: Kutschaty ist einer, der sich nie groß in den Vordergrund drängt, aber messerscharf und druckreif formulieren kann. Einer der lange zuhören kann, selbst auf Wahlkampf-Terminen, der aber präsent ist, wenn Entscheidendes passiert. In den eigenen Landtagsreihen, so kolportiert es das Magazin „Spiegel“, gilt er als eine Art Polit-Krokodil: „Ein Tier, das träge im Sumpf liegt, meistens nichts macht, doch wenn ein Gegner vorbeikommt, schnappt es zu.“
Im Essener Sozi-Sumpf vergangener Tage blieb Kutschaty lange regungslos
Kutschaty findet den Begriff „meschugge“, aber ein bisschen was ist wohl dran an dieser abwartenden, manchmal lauernden Position, denn im Sozi-Sumpf blieb Kutschaty lange regungslos, wo mancher sich sein deutliches Vorpreschen gewünscht hätte: Als die SPD ihren eigenen Oberbürgermeister Reinhard Paß demontierte, war Kutschaty jedenfalls auffällig unauffällig, und wo sich ihn viele zur Kommunalwahl als Kufen-Konkurrent um den OB-Posten wünschten, reagierte er betont reserviert.
Auch den Job des Essener Parteichefs übernahm Kutschaty erst, als es nicht mehr anders ging und seine Zögerlichkeit der eigenen Partei zunehmend unangenehm auffiel. Dahinter, mutmaßten Parteifreunde schon damals, steckte fraglos das nachvollziehbare Kalkül, die eigenen landespolitischen Ambitionen nicht zu torpedieren. Und tatsächlich darf die Zeit Kutschatys als Chef von rund 3800 Essener Sozialdemokraten als eher glücklos gelten.
Immer wieder Momente, in denen das „Krokodil“ heftig zuschnappte
Was weniger an ihm lag, als an jenen Jahren des sozialdemokratischen Missvergnügens, mit denen die SPD in Essen wie andernorts zu kämpfen hatte, an den entsprechenden Wahlniederlagen, am medienwirksamen Abgang des Ex-Genossen Guido Reil. Aber auch an der Affäre um die Lebens(lauf)-Lüge der einstigen Bundestagsabgeordneten Petra Hinz, die Thomas Kutschaty einerseits galant loswerden musste – und die ihm andererseits kritische Fragen einbrachte, warum ihm als Jurist das Gebaren der Nicht-Juristin zu keinem Zeitpunkt aufgefallen war.
Und doch gab es immer wieder auch diese Momente, in denen das Krokodil zuschnappte: Als sein Stellvertreter Karlheinz Endruschat sich etwa über die nach seiner Ansicht zu hohe Zahl an Einwanderern im weiten Teilen des Essener Nordens beklagte, distanzierte sich Kutschaty mit durchaus scharfen Tönen: „Die SPD sucht nicht nach Sündenböcken, die SPD sucht nach Lösungen“, ließ er schriftlich wissen – und dass der Genosse aus Altenessen es sich mit heiklen Vokabeln allzu leicht mache.
Die Kritiker traten aus, die Partei steht wie Kutschaty selbst heute spürbar weiter links
Die so Gescholtenen konterten mit dem Vorwurf, Kutschaty und Co. würden sich die Migrations-Probleme nur schönreden und eine echte Debatte verhindern. Tatsächlich wurde die Diskussion, die in der Tat vielleicht manches in der hiesigen SPD zum Implodieren gebracht hätte, erst geschickt vertagt und irgendwann vergessen. Die kaltgestellten Kritiker verließen frustriert die Partei, die – wie Kutschaty selbst – heute spürbar weiter links steht, wenn solche Zuschreibungen überhaupt noch in die Zeit passen.
Olaf Scholz war deshalb nicht sein Wunschvorsitzender, seine Nähe auf dem Plakat sucht er dennoch. Für den Aufstieg muss man Opfer bringen.