Essen. Erst die verheerende Wahlniederlage, dann der Korb der CDU bei der Partnersuche: Essens SPD ist in der Krise – und dennoch irgendwie erleichtert.

Der Bart ist ab, politisch und überhaupt, aber naja, das war er eigentlich auch schon vor der Wahl: Bereits im Sommer hatte Thomas Kutschaty sich dazu entschieden, die eigene Gesichtsbehaarung zu stutzen. Was das Maskentragen danach spürbar erleichtert haben dürfte, ersparte dem Essener SPD-Vorsitzenden und seinen 3300 Genossen im Herbst des sozialdemokratischen Missvergnügens ausufernde Wortspiele, da sei man von den Wählern ja mal, haha, ganz schön rasiert worden.

Und nun, da „die Schwatten“ auch noch die Grünen zum Wunschpartner für den Stadtrat erkoren haben , verfällt die alte Tante SPD in Essen sicher in tiefe Depression. Muss doch, oder?

Eine unsichtbare schwere Last ist von den hiesigen Genossen abgefallen

Wer dieser Tage mit Sozialdemokraten spricht, wird erstaunt sein, wie gefasst und aufgeräumt, ja regelrecht erleichtert sie sich in ihre neue Rolle fügen. Entweder hat da jemand die Devise ausgegeben, man möge auf Nachfrage nun bitte allenthalben „entspannte“ Miene zum verlorenen Spiel machen. Oder da ist eine unsichtbare schwere Last von den hiesigen Sozis abgefallen: diese Bürde, in der längst geschliffenen alten SPD-Hochburg das Leben entscheidend mitgestalten zu sollen, einerseits.

Fiedler, Heidenblut und Wolters als Kandidaten für Berlin?

Die geplante Bundestags-Kandidatur von Sebastian Fiedler , Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, für die SPD im gemeinsamen Wahlkreis Mülheim/Essen-Borbeck ließ dieser Tage aufhorchen.

In den beiden anderen Wahlkreisen dagegen bleibt womöglich alles beim Alten: Im Nord-Osten tritt erneut Dirk Heidenblut an, Abgeordneter seit 2013. In Mitte-Süd will es Jura-Professor Gereon Wolters noch einmal wissen, der 2017 CDU-Chef Matthias Hauer unterlag. Nominiert wird im Januar 2021 .

Und andererseits zu wissen, dass angesichts eines schwarz-roten Mischmasch in einer Rats-GroKo, die kein „Rot pur“ zulässt, die Zerrissenheit in den eigenen Reihen weiter wächst. Erst recht, wenn die Zufriedenheit über Erfolge in einer reibungslosen Stadt-„Regierung“ in der Wählerschar nicht den erhofften Widerhall findet. Der eigene OB-Kandidat – regelrecht untergegangen; die Ratsfraktion – kleiner denn je. Der Vorsitzende: ratlos?

„Wir sind sturmerprobt seit 1863“, sagt der Noch-Parteivorsitzende Kutschaty

Nein, „völlig entspannt“. Denn „wenn ich ratlos wäre“, sagt Thomas Kutschaty augenzwinkernd, „würde ich mich auf meine Rente vorbereiten und nicht Landesvorsitzender der SPD werden wollen“. Ja doch, die SPD, sie stecke im Tief, das sei beileibe keine Essener Spezialität, sondern landes-, vielleicht europaweit so. „Aber wir sind sturmerprobt seit 1863, wir kennen viele Höhen und Tiefen im Parteileben“, und nein, er wird jedenfalls nicht alle Hoffnung fahren lassen, dass die Partei „zu alter Stärke zurückfindet“.

Sie müsste dies indes ohne Kutschaty an der Essener Spitze bewerkstelligen. Denn der 52-Jährige Frontmann, den sich viele zwischen Karnap und Kettwig einst als Herausforderer für OB Thomas Kufen gewünscht hätten, er hat, wenn man das so sagen darf, Größeres vor, will neben dem Chefposten der Landtagsfraktion auch SPD-Landesvorsitzender werden . Und am Ende auch Spitzenkandidat zur Landtagswahl 2022.

Die Neuorientierung in der SPD beginnt ohne Querschüsse aus eigenen Reihen

Also muss in Essen ein anderer ran: Frank Müller hat dafür seinen Hut in den Ring geworfen, einst Ratsherr aus Kray und seit drei Jahren Kutschatys Landtagskollege, dazu Schatzmeister der örtlichen Partei und zuletzt Leiter jenes Wahlkampfs, der für die SPD so bitter ausging.

Konkurrenz für Müller ist nicht in Sicht, das verbindet ihn mit Ingo Vogel, der eben erst mit einem überzeugenden Ergebnis zum Fraktionschef der Sozialdemokraten im Rat wiedergewählt wurde. Obwohl (oder gerade weil) OB-Kandidat Oliver Kern so an seiner Arbeit und der der Fraktion herumgenörgelt hatte . Wie es scheint, beginnt die Phase der Neuorientierung in der SPD ohne Querschüsse aus eigenen Reihen. Und an der Basis, so erinnert Noch-Parteichef Kutschaty, bleibe der zentrale Vorteil erhalten: „Keine andere Partei ist so flächendeckend organisiert und in allen Stadtteilen vertreten.“

Will Thomas Kutschaty als Parteivorsitzendem der SPD nachfolgen: Landtagskollege Frank Müller.
Will Thomas Kutschaty als Parteivorsitzendem der SPD nachfolgen: Landtagskollege Frank Müller. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

„Dieses Haudrauf, das war 80er-Jahre-Politik“ – der Gegner steht woanders

Diese Stärke will man nutzen: „Wir sind hoch motiviert, Opposition zu machen.“ Ein kritischer Begleiter von Schwarz-Grün wolle man sein, „unabhängig von der politischen Farbenlehre“. Denn vorbei die Zeiten, so glaubt einer aus der Ratsfraktion, „in der wir auf die anderen eingedroschen haben, nur weil sie von der anderen Partei waren: Dieses Haudrauf, das war 80er-Jahre-Politik.“

Heute schwant den Genossen, dass der eigentliche Gegner woanders steht. Und dass der Umstand, von der CDU als Rats-Partner nicht gewählt worden zu sein, vielleicht auch so etwas wie ein Glücksfall sein kann, sich neu zu sortieren. Auf der anderen Seite hätten die Christdemokraten womöglich gehofft, dass die Genossen Nein zu einer Neuauflage der GroKo-Verhandlungen sagen. Das hätte eine prima Rechtfertigung für Schwarz-Grün abgegeben – fürwahr nicht die Lieblingskonstellation aller in der CDU.

„Man hat halt eine gute Begründung gesucht, warum wir es nicht werden sollten“

Es kam aber aus der Fraktion ein klares 17:3, und auch die Partei legte sich nicht quer, was CDU-intern anders dargestellt wurde, wie die SPD intern murrt: „Man hat halt eine gute Begründung gesucht, warum wir es nicht werden sollten“, sagt einer, der dabei war.

Aber schwamm drüber, man ist den Partnern von gestern nicht gram. Wer weiß, wofür man sich noch einmal braucht, und wie heißt der schöne Spruch? „Ist ein schönes Gefühl, wenn der Schmerz nachlässt.“ Obwohl, der hat ja auch so einen Bart.

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