Duisburg. Franco Kratzenstein kann weder sehen noch hören – er ist taubblind. Der 60-Jährige verrät jetzt, wie er sich trotzdem mitten ins Leben gekämpft hat.
Franco Kratzenstein sieht seinem Gegenüber aus seinen blauen Augen so direkt ins Gesicht, dass man glatt vergessen könnte: Der 60-Jährige ist vollblind. „Das habe ich mir angewöhnt, als ich noch sehen konnte“, sagt er. Denn als vollblind gilt Kratzenstein erst seit 2020. In jungen Jahren musste er sich mehr als andere auf sein Augenlicht verlassen, war er doch gehörlos geboren.
Erst mit Anfang 30 bekam der Solinger die Diagnose: Usher-Syndrom, eine der häufigsten Ursachen von Taubblindheit. „Das war so, als ob man mir die Kündigung für die Teilhabe am Leben in die Hand gedrückt hätte“, sagt Kratzenstein rückblickend. Seither beschäftigt er sich mit der Frage, wie er sein Leben trotz Behinderung selbstbestimmt gestalten kann.
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Taubblinder Mann in Duisburg: „Alleine verlasse ich das Haus niemals“
Franco Kratzenstein hat früh gelernt, sich selbst zu helfen. Viele Jahre fiel seine Gehörlosigkeit niemandem auf. Erst sein Mathelehrer merkte, dass etwas nicht stimmt: „Er hat sich gewundert, warum ich manchmal bocke und manchmal nicht.“ Damals war der Schüler gerade neun. Er hatte sich über Jahre angewöhnt, vom Mundbild anderer abzulesen, um zu verstehen. Doch sobald sich sein Lehrer zur Tafel drehte, konnte Kratzenstein dem Unterricht nicht mehr folgen.
Heute lässt sein Alltag kaum auf seine schwere Behinderung schließen: Der Solinger ist voll berufstätig, arbeitet in Duisburg beim Sozialen Dienst Marxloh, leitet hier eine Selbsthilfegruppe für Taubblinde und in seiner Heimatstadt eine Musikschule. Nach der Arbeit geht er zum Tanzkurs, am Wochenende stundenlang wandern.
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Dennoch: „Alleine verlasse ich das Haus niemals“, sagt der Musiker. Neben seinem Blindenlangstock und dem Hörgerät ist Kratzenstein außerhalb der eigenen vier Wände zu jeder Zeit auf Assistenz angewiesen. Gelegentlich übernimmt das seine hörende und sehende Frau, sehr häufig aber Taubblindenassistentinnen und -assistenten.
Jahrelang war Kratzenstein für viele seiner Hobbies auf den Terminkalender und das Wohlwollen seiner engsten Freunde und ehrenamtlichen Helfer angewiesen. Erst seit 2020 ermöglicht ihm das Bundesteilhabegesetz die Kostenübernahme einer Taubblindenassistenz im Privatleben – für Kratzenstein ein Befreiungsschlag: „Das war, als hätte ich eine Zwangsjacke abgelegt.“
Der Taubblinde fühlte sich verloren – bis er eine Selbsthilfegruppe gründete
Der 60-Jährige ist mit seinem Schicksal nicht allein: Das Deutsche Taubblindenwerk geht von 10.000 Betroffenen bundesweit aus, Zahlen für NRW gibt es nicht. Dennoch fühlte er sich mit seiner Diagnose lange einsam – aus der Gehörlosenwelt, in der er jahrelang Zuhause war, wurde er irgendwann „rausgeschmissen“.
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Viele gehörlose Bekannte schreckte seine zunehmende Sehbehinderung ab. „So können wir uns ja gar nicht mit dir unterhalten“, hieß es häufig. Wie sollte er ihre Gebärden blind verstehen? Noch Jahre danach hielt sich Kratzenstein an hörende Menschen: Mithilfe seines Hörgeräts und dank unzähliger Logopädiesitzungen kann er sich mit ihnen nahezu barrierefrei unterhalten. Sich selbst bezeichnet der Solinger daher als „kleine Rarität“ – für Taubblinde sei es eher selten, lautsprachlich unterrichtet zu werden. Die Gebärdensprache legte er ab.
Es gab scheinbar keinen Platz für ihn – den Mann, der weder lediglich seh- noch lediglich hörbehindert war. Bis sich Kratzenstein den Raum, nach dem er sich sehnte, vor wenigen Jahren kurzerhand selbst schuf: eine Selbsthilfegruppe für taubblinde Menschen. Seit den 80er-Jahren hatte der Solinger diesen Traum heimlich gehegt, gemeinsam mit Mitgründerin Marion Hauke klappte es 2023 endlich.
Hier findet er Gemeinschaft, die Teilnehmenden bemühen sich, über jegliche Barrieren hinweg zu kommunizieren: Lautsprachlich orientierte Betroffene erlernen die Gebärdensprache, um sich mit gebärdensprachlich orientierten Menschen zu verständigen. Letztere bessern das taktile Verstehen der Gebärden auf.
Taubblind in Duisburg: Das Bundesteilhabegesetz brachte Franco Kratzenstein Erleichterung
Auch in anderen Bereichen seines Lebens hält Kratzenstein an seinen Träumen fest – was der 60-Jährige machen möchte, macht er für gewöhnlich auch. Allerdings ist er dabei selten spontan: Sein Alltag erfordert jede Menge Organisation. Morgens wird er in Solingen von seiner Taubblindenassistenz abgeholt und nach Duisburg gebracht, später am Tag begleitet sie ihn dann in seine Musikschule. Regelmäßig besucht Kratzenstein eine Tanzschule, auch hier in Begleitung seiner Assistenz, die ihm die Schritte erklärt.

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Zur Musik hat Kratzenstein im zarten Alter von vier Jahren gefunden. Damals führte seine Familie einen Musikclub. „Ich habe mich immer gewundert, warum die Leute so tanzen“, erinnert der 60-Jährige. Damals trug er noch kein Hörgerät. Erst als er sich eines Tages vor einem Schlagzeug aufhielt, verstand er: „Ich hab im ganzen Körper den Rhythmus gespürt.“ Seitdem hat Kratzenstein das Schlagzeug nicht mehr losgelassen. „Das ist für mich Erfüllung.“
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