Duisburg. Nutzen Bulgaren und Rumänen die EU-Freizügigkeit aus, um Sozialsysteme zu missbrauchen? Eine Studie liefert tiefe Einblicke zur Lage in Duisburg.

  • Forscher haben mit mehr als 500 Bulgaren und Rumänen in Marxloh und Hochfeld gesprochen
  • Wissenschaftler: Viele Familien in Sprechstunden wollen sich nicht um Sozialleistungen bemühen
  • Diskriminierung auf Arbeits- und Wohnungsmarkt und hohe behördliche Hürden
  • Folge: „florierende informelle Dienstleistungsökonomie“ mit „haarsträubenden Gebühren“

Wenn in Duisburg öffentlich über Zugewanderte aus Bulgarien und Rumänien diskutiert wird, dann meist im Zusammenhang mit Häuserräumungen oder Sozialleistungsmissbrauch. Genauer: mit Vorwürfen und Verdachtsfällen des Sozialbetrugs. Denn nach Razzien wie 2023 am Erlinghagenplatz oder jüngst im Weißen Riesen geben die Behörden keine Zahlen zu Strafverfahren bekannt. Sozialwissenschaftler der Universität Duisburg-Essen (UDE) erkennen darin ein Beispiel für die Stigmatisierung der EU-Migrantinnen und -Migranten. Die Forscher sehen Zuschreibungen wie „Sozialtourismus“ und „Armutszuwanderung“ durch ihre neue Studie am Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) widerlegt. Für diese haben sie mit mehr als 500 Südosteuropäern in Hochfeld und Marxloh Gespräche geführt.

Dr. Polina Manolova, Dr. Thorsten Schlee und Lena Wiese beleuchten mit ihrer Pionierarbeit vielfältige Diskriminierungserfahrungen der Zugewanderten. Ihr Appell: Statt sich auf Sicherheitsrisiken und Integrationsdefizite der Migranten zu konzentrieren, sollten die Ursachen für deren von Armut und Unsicherheit bestimmten Lebensverhältnisse mehr Beachtung finden.

Warum? Obwohl die Beschäftigungsquoten von Bulgaren (53,6 %) sowie Rumänen (67,2 %) in Deutschland relativ hoch sind und auch in Duisburg steigen (siehe Grafik), wirke seit 2014 ein durch Kommunen, Politik und Medien etablierter Interpretationsrahmen nach, kritisiert die Studie. Laut dieser Erzählung nutzten die Migranten die europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit aus, um soziale Systeme zu missbrauchen. Sie importierten soziale Probleme aus ihren Herkunftsländern.

Bulgaren und Rumänen in Duisburg: „Das Armutsproblem ist nicht importiert“

„Die Zuschreibung dieser extrem negativen Eigenschaften entspricht nicht der Realität“, sagt Dr. Polina Manolova. Ihre Heimatstadt ist das südbulgarische Plovdiv, aus dem viele der nach Duisburg zugewanderten Bulgaren stammen. Viele von ihnen gehörten in Plovdiv eben nicht zu den ärmsten Einwohnern, sondern eher der Mittelschicht ihrer Stadtviertel an. „Die Armut hier ist neu für sie“, erklärt Manolova. „Das Armutsproblem ist nicht importiert.“

Großkontrolle im Weißen Riesen in Duisburg-Hochheide. Die Forscher kritisieren „medial platzierte Kontrollen“ und die Taskforce Problemimmobilien.
Großkontrolle im Weißen Riesen in Duisburg-Hochheide. Die Forscher kritisieren „medial platzierte Kontrollen“ und die Taskforce Problemimmobilien. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Es sei vielmehr die Folge von Ausgrenzung, wie sie auch die Stadt Duisburg betreibe, vor allem durch die Duisburger Taskforce Problemimmobilien. Selbst in Gelsenkirchen und Dortmund würden Familien nicht mehr von jetzt auf gleich auf die Straße gesetzt und aus ihrem Umfeld gerissen, vergleicht die UDE-Soziologin: „Das Vorgehen der Stadt Duisburg mit dem massiven Einsatz von Räumungen ist europaweit einmalig.“ Die Einsätze seien ein „wichtiger Beitrag zur symbolischen Ausgrenzung“.

Sozialmissbrauchsfälle: „keine Zahlen, nur Einzelfall-Evidenz“

Zum Vorwurf des Sozialtourismus sagt Manolova: „Viele der Familien, mit denen wir gesprochen haben, wollen sich nicht um Sozialleistungen bemühen, selbst wenn sie Anspruch haben. Sie wollen aus Angst vor Stigmatisierung nicht in die Sozialsysteme.“ Ein weiterer Grund sei ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen.

Dr. Thorsten Schlee sagt, zum Sozialmissbrauch durch Südosteuropäer in Duisburg gebe es „keine Zahlen, sondern nur Einzelfall-Evidenz. Über die justitiablen Ergebnisse medial platzierter Kontrollen wird die Öffentlichkeit nicht informiert.“ Bulgaren und Rumänen würden „durch Verallgemeinerungen – oft in Verbindung mit antiziganistischen Stereotypen – zu Sündenböcken einer fehlgeleiteten Sozialpolitik gemacht“, kritisiert Lena Wiese.

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Sie und Manolova gehörten zum Team aus Forschern und Muttersprachlern, das von November 2023 bis Juni 2024 mit 532 Zuwanderern in Hochfeld und Marxloh insgesamt 720 Gespräche geführt hat. Dazu wurden in beiden Stadtteilen Sozialberatungen eingerichtet: in Hochfeld in Kooperation mit dem Verein „Solidarische Gesellschaft der Vielen“ (sgdv), in dessen Vorstand Wiese ist; in Marxloh mit dem Verein „Stolipinovo in Europa“ (SiE), in dem sich Manolova engagiert. Für die Sprechstunden wurden Menschen mit bulgarischen, rumänischen, türkischen und Romanes-Sprechkenntnissen befristet angestellt. Aus diesen Gesprächen speisen sich die Erkenntnisse der Forscher.

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Drohungen und Wohnungskündigungen per Whatsapp

Ein wesentliches Ergebnis: Bulgarische und rumänische Arbeitskräfte werden auch zehn Jahre nach Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit von Arbeitgebern benachteiligt und von Subunternehmern ausgebeutet. Auch „netzwerkbasierte Arbeitsverhältnisse“ verhinderten den Weg in reguläre Beschäftigung (>> zum Bericht). Ein Grund sind weiterhin Sprachbarrieren. Für Deutschunterricht hätten viele Betroffene keine Zeit, sagt Polina Manolova, sie seien „den ganzen Tag mit dem Überleben beschäftigt“. Für jene, die abends lernen wollen, gebe es keine Kurse. „Der Bedarf und die Verzweiflung ist groß.“

Auch der reguläre Wohnungsmarkt sei für „Personen mit rumänisch oder bulgarisch klingenden Namen unzugänglich“, bescheinigt die Studie. Aussagen von Vermietern waren ethnien- und herkunftsbezogen diskriminierend. Für Betroffene bleibe nur der prekäre Graubereich des Immobilienmarktes, in dem Vermittler bis zu 1000 Euro Provision verlangten. Mietbeziehungen, die in den Sozialberatungen offengelegt wurden, zeichneten sich aus durch Drohungen, Barzahlungen, Kündigungen per Whatsapp, fehlende Nebenkostenabrechnungen.

Wissenschaftlerin Polina Manolova.

„Für Deutschunterricht haben viele keine Zeit, weil sie den ganzen Tag mit dem Überleben beschäftigt sind.“

Dr. Polina Manolova

„Sie verschleppen die Dokumente absichtlich, um uns loszuwerden“

Die Erkenntnisse zu „bürokratischen Grenzpraktiken“ beziehen sich vor allem auf das Jobcenter. Die Antragsteller müssten im Schnitt 25 Dokumente nachweisen, die für sie schwer zu beschaffen seien, etwa wegen informeller Mietverhältnisse und häufig wechselnder Beschäftigungen. Diese Hürden, lange Warte- und Bearbeitungszeiten hätten einige Gesprächspartner dazu bewogen, ihre Ansprüche aufzugeben. „So fallen gerade Personen in besonderen Bedarfslagen aus den Systemen sozialer Sicherung heraus, obwohl sie in prekären Beschäftigungsverhältnissen die migrantisch geprägten Wirtschaftssektoren am Laufen halten“, kritisieren Manolova, Schlee und Wiese.

Ein Fallbeispiel der Studie: Metin (22) verdient als Teilzeitreinigungskraft 630 Euro netto, muss seine schwangere Frau und die Großmutter unterstützen. Er warte seit sechs Monaten auf die Prüfung eines SGB-II-Antrages – und werde deswegen wohl nach Bulgarien zurückkehren müssen. Zitiert wird Drago, 36, der seinen Job am Kölner Flughafen während der Pandemie verlor. Sein Antrag werde noch immer bearbeitet: „Sie verschleppen die Dokumente absichtlich, um uns in die Enge zu treiben, arm zu halten und loszuwerden.“

Thorsten Schlee, Polina Manolova und Lena Wiese (von links) haben die schwierige Lage von Bulgaren und Rumänen in Marxloh und Hochfeld erforscht.
Thorsten Schlee, Polina Manolova und Lena Wiese (von links) haben die schwierige Lage von Bulgaren und Rumänen in Marxloh und Hochfeld erforscht. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

50 Euro für eine Terminbuchung beim Amt

Eine Folge ist laut Report in Duisburg eine „florierende informelle Dienstleistungsökonomie“ zur Überwindung der behördlichen Hürden. Vermittler, oft Migranten der zweiten oder dritten Generation mit türkischen Sprachkenntnissen, verlangten „haarsträubende Gebühren“. Eine Terminbuchung fürs Amt etwa koste 50 Euro.

Das bittere Fazit der Studie: Die Diskriminierung in der Arbeitswelt, auf dem Wohnungsmarkt und beim Zugang zu sozialen Rechten verschärft die prekäre Lage südosteuropäischer Migranten in Duisburg. Die abwehrende Ausrichtung der Stadtverwaltung und bürokratische Hürden verschlimmerten und verstetigten die prekäre Lage der Zugewanderten, anstatt sie als EU-Bürger und wichtige Arbeitskräfte zu unterstützen. Besserung sei nicht in Sicht.

>> Besondere Situation in Duisburg / Finanzierung der Studie

  • In Duisburg leben mehr südosteuropäische EU-Ausländer als in jeder anderen Stadt in NRW. Ende 2023 waren im Einwohnermelderegister 16.359 Bulgarinnen und Bulgaren sowie 10.074 Rumäninnen und Rumänen registriert (31.10.2023).
  • Der IAQ-Report „Multiple Prekarisierung – zur Lebenslage osteuropäischer Migrant*innen in urbanen Sozialräumen“ ist im Internet unter uni-due.de veröffentlicht.
  • Die Studie wurde im Rahmen des von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes finanzierten Projektes „Diskriminierung jenseits der Kategorien“ durchgeführt.