Duisburg-Rumeln/Kaldenhausen. Okko Herlyn, Theologe, Kabarettist und Buchautor, spricht im Interview über die Auswirkungen der Pandemie auf Kirche, Kultur und Politik.
Vor mehr als einem Jahr führten wir ein Gespräch mit dem ehemaligen Gemeindepfarrer und Theologieprofessor Okko Herlyn aus Rumeln über die Auswirkungen der Pandemie auf Kirche, Kultur und Politik. Wie sieht Okko Herlyn, der sich auch als niederrheinischer Kabarettist und Buchautor einen Namen gemacht hat, jetzt die Dinge. Stephan Sadowski fragte bei Herlyn in Rumeln nach.
Herr Herlyn, wenn nach der Corona-Pandemie die Amtsgerichte wieder freier zugänglich sein sollten, wie viele Kirchenaustritte befürchten Sie, die auf die evangelische Kirche zukommen werden?
Okko Herlyn: Über die Frage, welche Rolle die Pandemie im Hinblick auf die Kirchenaustrittszahlen spielt, gibt es noch keine belastbaren Daten. Es mag sein, dass Corona für manche zur Klärung beigetragen hat – so oder so.
Grundsätzlich gilt allerdings: Wer meint, die Kirche verlassen zu müssen, sollte sich klarmachen, welche Folgen das nicht nur für ihn persönlich, sondern auch für die Gesellschaft hat. Auf Dauer wird sich der Staat jeden Euro, den man mit einem Kirchenaustritt einzusparen meint, zurückholen, um viele soziale Einrichtungen – Krankenhäuser, Pflegeheime, Kindertagesstätten, Beratungsstellen usw. – am Leben zu erhalten.
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Inwieweit können Sie sich dann bei Ihren katholischen Kollegen, hier vor allem Herrn Woelki, bedanken, dass die Austritte auch Sie betreffen?
Häufig wird kein Unterschied zwischen katholisch und evangelisch gemacht. So treten immer wieder Menschen absurderweise aus der evangelischen Kirche aus, weil sie sich am Papst stören. Ohne die eine oder andere Konfession für besser oder schlechter erklären zu wollen, ist eine solche Gedankenlosigkeit schon ärgerlich. Wie weit solche Ignoranz nun auch im Hinblick auf Kardinal Woelki zutrifft, vermag ich allerdings nicht zu sagen. Ganz auszuschließen ist es jedenfalls nicht.
Hätte die evangelische Kirche den Zölibat, gäbe es dann dort auch so viele Missbrauchsfälle?
Ich halte zahlenmäßige Vergleiche in diesem Zusammenhang für problematisch. Jeder einzelne Fall von sexueller Gewalt ist einer zu viel. Ohne von kirchlichem Verschulden ablenken zu wollen, sei aber darauf hingewiesen, dass sexuelle Gewalt ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt: in Familien, Nachbarschaften, Vereinen, Schulen, am Arbeitsplatz und eben leider auch in Kirchen. Mit der Fixierung auf den Zölibat als alleinige Ursache für sexuellen Missbrauch kann man es sich auch zu einfach machen.
Viel relevanter scheinen mir strukturelle Gründe zu sein: Abhängigkeiten, Vertrauensverhältnisse, Verschwiegenheitsgebote und moralische Systeme, die „so etwas“ nicht denkbar erscheinen lassen. Ob der Zölibat dabei sozusagen als „Brandbeschleuniger“ wirkt, ist bislang nur eine Vermutung.
Was ist aus dem kirchlichen Engagement geworden?
Sie sagten, die Pandemie legt den Finger in die Wunde. Das hat auch Ihr Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm versucht, indem er, als die Sterbezahlen durch Covid am höchsten in Europa waren, das Augenmerk auf die Flüchtlinge in den heruntergekommenen Lagern auf Lesbos legte. Was ist allerdings aus diesem Engagement der evangelischen Kirche jetzt geworden?
Ich rechne es etlichen Vertreterinnen und Vertretern beider Kirchen hoch an, dass sie trotz Corona nicht den Blick für andere nach wie vor bedrängende Probleme verloren haben. Dazu gehören neben der Flüchtlingsfrage sicher auch die Klimakrise und die weltweite Armuts- und Hungerkatastrophe. Keiner ist gehindert, sich hier nach wie vor ideell oder auch finanziell zu engagieren. Die Konten etwa von „Brot für die Welt“ oder „Misereor“ sind jedermann zugänglich.
Wo hat die evangelische Kirche, Ihrer Meinung nach, gut reagiert in der Pandemie – wo eher schlecht? Inwiefern war sie besser oder schlechter als die Katholiken?
Es wurde ja verschiedentlich kritisiert, dass „die Kirche“ sich in der Pandemie nicht deutlich genug positioniert habe. Aber wer ist „die Kirche“? Nach evangelischem Verständnis sind das jedenfalls nicht irgendwelche Leitungsgremien, sondern die Gemeinden und Christen vor Ort. Hier habe ich allerdings viel beherztes und phantasievolles Engagement wahrgenommen: „Andachten to go“, Seelsorgespaziergänge, Musik unter freiem Himmel, Hoffnungsbriefe, Konfirmandenunterricht per Video-Konferenz, Besuchsdienste in Pflegeheimen, Nachbarschaftshilfen, um nur einiges zu nennen.
Ein „besser oder schlechter“ zwischen evangelischen und katholischen Gemeinden ist mir dabei nicht aufgefallen.
Soziale Ungerechtigkeiten wurden in der Corona-Krise sichtbar
Was müsste unbedingt verbessert werden, im gesellschaftlichem Miteinander nach der Pandemie?
Corona hat manches sichtbar gemacht, was an Problemen auch ohne Corona vorhanden ist: prekäre Wohnverhältnisse, die Benachteiligung vieler Kinder, himmelschreiende soziale Ungerechtigkeiten, die enorme Bedeutung von Bildung und Kultur, die wirtschaftliche Verletzlichkeit verschiedener Branchen, nicht zuletzt unser oft gedankenloser Umgang mit den natürlichen Ressourcen.
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Wenn Corona einen positiven Sinn haben sollte, dann den, hier gemeinsam den Schalter umzulegen. Der alte biblische Ruf nach radikaler Umkehr könnte hier noch einmal sehr aktuell werden.
Seine Begeisterung für Papst Franziskus ließ inzwischen nach
Sie haben Bücher, genauso wie Papst Franziskus, über das „Glaubensbekenntnis“ und das „Vaterunser“ geschrieben. Welchen Einfluss hat das katholische Oberhaupt auf Sie?
Als Papst hat Franziskus auf mich überhaupt keinen Einfluss. Das, was er theologisch zu sagen hat, nehme ich mit Interesse zur Kenntnis. Ob es mir immer einleuchtet, ist eine andere Frage. Ich will aber auch nicht verhehlen, dass meine anfängliche Begeisterung vor allem für sein bescheidenes Auftreten inzwischen einer gewissen Ernüchterung gewichen ist. In der Sache ist er offenbar doch ähnlich konservativ wie seine Vorgänger Johannes Paul und Benedikt.
In Ihrem neuen Buch „Das Glaubensbekenntnis“ nehmen Sie diesen alten Text Wort für Wort auseinander. Welche aktuellen Bezüge sehen Sie heute darin?
Jede Menge. Selbst so sperrige Motive wie etwa Jungfrauengeburt, Himmelfahrt oder Auferstehung entpuppen sich bei genauem Hinsehen als überaus gegenwartsnahe, gesellschaftlich und politisch relevante Botschaften. Jedenfalls ist das Glaubensbekenntnis nicht dazu angetan, uns in eine religiöse Idylle zu entführen.
Mehr sei hier nicht verraten.