Ruhrgebiet. In der Corona-Zeit wenden sich mehr Menschen an die Telefonseelsorge. Sie beklagen vor allem Einsamkeit. „Die ganz große Welle kommt erst noch.“
Hier kommt der Seelsorgehund. Wenn er seine Ausbildung beendet hat, wird eine Seelsorgerin in Düsseldorf das Tier mitnehmen und an einer Realschule einsetzen. Um Beziehungen aufzubauen, Nähe herzustellen, Empathie zu erzeugen. Seelsorge auf neuen Wegen. Dich schickt der Himmel.
Die neuen Wege sind sehr nötig in dieser distanzierten Corona-Zeit. Seelsorge auf Abstand, geht das überhaupt? Ja, die Telefonseelsorge beweist das schließlich seit Jahrzehnten. Doch neue Formen sind hinzugekommen: Seelsorge in Chats und Mails, Mutmach-Briefe, Podcasts, Segen zum Mitnehmen . . . werden offenbar dringend benötigt. Denn die Menschen wollen die Seele nicht mehr taumeln lassen.
„Einsamkeit ist das beherrschende Thema am Telefon“
„Zu uns kommen die Ärmsten der Armen, aber nicht im finanziellen Sinn“, sagt Pfarrer Volker Bier von der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR). Sie zählte im Jahr 2020 rund 250.000 Seelsorge-Kontakte per Telefon, Chat oder Mail; ganz überwiegend per Telefon, aber die anderen Formen wachsen schnell. Und darin sind die vielen Kontakte von Angesicht zu Angesicht noch nicht inbegriffen: Seelsorge-Spaziergänge beispielsweise oder Gespräche von einem Ende der Parkbank zum anderen.
Es ist eine Liste des Grauens, was die Menschen 2020 belastet. Spitzenreiter: Einsamkeit, kein Wunder. Einsamkeit, Einsamkeit, Einsamkeit. „Es ist das beherrschende Thema am Telefon, ist die Grunderkrankung unserer Gesellschaft“, sagt Bier. Es folgen: Suizidalität, also Gedanken an einen eigenen Selbstmord oder der Selbstmord eines nahe stehenden Menschen. Krankheit. Angst. Depression. Gewalt. Angst und Gewalt sind vor allem die Themen der Jüngeren. Bei der Schulseelsorge sei die Nachfrage „explosionsartig“ um ein Drittel gestiegen.
Psychische Schwierigkeiten entstehen jetzt erst
„Viele Schüler und Studenten fühlen sich in ihren Familien einsam, weil der wichtige Kontakt zu Gleichaltrigen fast unmöglich ist“, sagt Landespfarrerin Sabine Lindemeyer. Und es habe alle Helfer „sehr erschreckt, dass das Thema Suizid 2021 so zugenommen hat“. Sie erwarte aber erst nach der Pandemie „eine ganz große Welle dieser Probleme, weil die psychischen Schwierigkeiten jetzt entstehen“. Bier nennt das „einen irritierenden und erschreckenden Einblick in die Lebenswelt von jungen Menschen heute“.
Ähnliches schildert die Pfarrerin Christiane Neufang aus der Evangelischen Studenten-Gemeinde Köln. In deren neuen Wohnheim hätten manche Studenten ein Jahr gewohnt, „jetzt sind einige schon wieder zurückgezogen zu den Eltern, und ich habe sie nicht kennenlernen können“.
Studenten sind „satt und müde von den ganzen Zoom-Veranstaltungen“
Gerade in der Phase, in der eigentlich die Abnabelung von den Eltern erfolgt, „ist jetzt oft Seelsorge nötig“ - weil die Abnabelung nicht richtig funktioniert, Eltern sich gar dagegen stellen. Und die jungen Erwachsenen fragen sich: „Kann ich ein Studium anfangen?“ „Finde ich ein Zimmer?“ „Welche Ausbildung ist richtig für mich?“ Die Sorgen vor der Zukunft seien enorm.
Viele Studenten seien „satt und müde von den ganzen Zoom-Veranstaltungen“. Sie säßen „von morgens bis abends vor dem Bildschirm und verfolgen Vorlesungen“, so Neufang: „Sie lechzen und sehnen sich nach analogen Formaten.“ Manche hätten aufgehört, überhaupt an Zoom-Veranstaltungen teilzunehmen.
Bei Mails und Chats ein großes Plus, am Telefon ein leichter Rückgang
227.328 von schweren Problemen getrieben Anrufe bei der Telefonseelsorge der Ekir, die dazu 20 Anlaufstellen unterhält, darunter in Duisburg, Oberhausen, Essen und Wesel. 10402 Mails, ein Plus von 28 Prozent. 6426 Chats, ein Plus von 35 Prozent. Bei den Anrufen gab es einen Rückgang um etwa ein Prozent. Durch die neuen Techniken erreiche man aber jetzt auch mehr schüchterne Menschen, denen ein persönliches Gespräch schon zuviel wäre - selbst am Telefon.
Die meisten Anrufer seien zwischen 40 und 60 Jahre alt gewesen, viele hätten auch mehrfach angerufen. Die Telefonseelsorge hat da ihre Dienstzeiten ausgeweitet und die Besetzung am Telefon verdoppelt. 1408 Helfer arbeiten in dem Bereich, ganz überwiegend Frauen.
„Dort ist eine unglaubliche Isolation entstanden“
Jürgen Sohn, der Leitende Dezernent für Seelsorge, nannte ganze Bereiche, die 2020 in Einsamkeit versunken und zum Teil noch nicht wieder aufgetaucht sind. Heime. Krankenhäuser. Gefängnisse. „Dort ist eine unglaublich Isolation entstanden.“ Gerade ehrenamtliche Seelsorger hätten oft heute noch Schwierigkeiten, Kontakte zu halten.
Lindemeyer, die Landespfarrerin, kann aber auch positive Beispiele nennen. Den „Segen zum Mitnehmen“, der an einer Wäscheleine im Schulfoyer hängt: Und an einem Präsenztag kann jedes Kind sich einen schnappen. Oder jener Einschulungs-Gottesdienst, bei denen die Eltern und ihr Kind unter Schirmen zu sitzen kamen. Es regnete nicht, es war drinnen. Familien unter Schirmen. Das Bild muss man nicht erklären.