Bottrop. Möbel, Geschirr, selbst Tapeten im Stil der 1950er-Jahre – so ist ein Wohnbereich im Malteserstift eingerichtet. Ein besonderes Demenzkonzept.

Gelsenkirchener Barock – so abfällig hätte man manchen Schrank, der hier im Wohnbereich Stadtgarten im Malteserstift in Vonderort steht, vielleicht bezeichnet. Doch hier, wo viele dementiell veränderte Menschen leben, ist diese Einrichtung aus den 1950er-Jahren Teil eines besonderen Demenzkonzepts. Für viele Bewohner war genau diese Zeit prägend. Dass hier nun vieles so eingerichtet ist, wie sie es als Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene kennen gelernt haben, gibt ihnen Sicherheit und ein Gefühl, daheim zu sein.

Und überhaupt, wer hat behauptet, dass es in den 1950er-Jahren keine schönen Möbel gab? Küchenmöbel, die in den Aufenthaltsräumen des Wohnbereichs stehen, dürften heute schon wieder als Liebhaberstücke gelten, ähnliches gilt für das zierliche Sideboard. Die Wohnzimmervitrine dagegen – Geschmackssache, aber eindeutig stilecht. Das zeigt sich auch beim Blick auf den Inhalt. Hinter dem Glas ordentlich aufgestapelt und präsentiert: das gute Geschirr. Tatsächlich wird es hier aber genutzt. Immer an Sonn- und Feiertagen kommt es auf den Tisch. „So kennen es viele Bewohner noch von früher, und genau das setzen wir hier gemeinsam mit ihnen um“, sagt Hausleiterin Elke Penkowski.

Bei der Umgestaltung haben die Bottroper viel Wert auf die Details gelegt

Dabei legen die Verantwortlichen viel Wert auf Details. So wird hier im Wohnbereich von Geschirr aus den 1950er-Jahren gegessen. Für den Alltag steht „Burgenland“ in rosa von Villerory & Boch im Küchenschrank. „Einige Bewohner kennen es in genau dieser Ausführung noch von früher“, sagt Pflegedienstleister Artur Krämer. Er hat das Service aufgetrieben, Ebay-Kleinanzeigen sei Dank. Um es abzuholen musste er bis nach Leer in Ostfriesland.

Elvira Kulla (l.) und Annette Schürmann halten sich gern in den neu gestalteten Räumen auf. Den Wohnzimmerschrank im Hintergrund hat das Haus geschenkt bekommen.
Elvira Kulla (l.) und Annette Schürmann halten sich gern in den neu gestalteten Räumen auf. Den Wohnzimmerschrank im Hintergrund hat das Haus geschenkt bekommen. © Heinrich Jung | Heinrich Jung

Das zeigt auch, wie groß der Aufwand war, den Wohnbereich entsprechend umzugestalten – zusätzlich zu den gerade eh schon hohen Mehrbelastungen durch Corona. Alle Mitarbeiter haben geholfen, gemeinsam geplant und überlegt, was wohl passen könnte. Das bereits erwähnte Kleinanzeigenportal im Internet erwies sich dann als gigantische Fundgrube. Zum Einsammeln der Schätze ging es nicht nur bis Ostfriesland, auch das Bergische Land und der Kölner Raum wurden angesteuert. Viele Verkäufer seien interessiert daran gewesen, wofür ein Seniorenzentrum die Dinge denn nun brauche, viele seien daraufhin auch mit dem Preis noch einmal heruntergegangen, freut sich Krämer. „Den Wohnzimmerschrank haben wir sogar geschenkt bekommen.“

Bewohner fühlen sich in der neuen alten Umgebung wohl

Die Bewohner wurden in die Umgestaltung mit eingebunden, konnten sich beteiligen, etwa bei der Auswahl der Tapeten. Wie gefällt ihnen der neue Wohnbereich? Annette Schürmann sitzt auf einem Sofa aus der Zeit, schaut sich um und ist zufrieden. „Ich fühle mich hier wohl“, sagt die 90-Jährige. Gemeinsam mit anderen Bewohnern habe sie die Tapeten ausgesucht, dazu kommt die passende Möblierung. „Es ist wirklich schön geworden, es hat sich wirklich verbessert“, lobt sie die Umgestaltung.

Bei der Ausgestaltung haben die Verantwortlichen auch auf Details geachtet – hier etwa die Sammeltassen in der Wohnzimmervitrine.
Bei der Ausgestaltung haben die Verantwortlichen auch auf Details geachtet – hier etwa die Sammeltassen in der Wohnzimmervitrine. © Heinrich Jung | Heinrich Jung

Tatsächlich gebe es Bewohner, die sich sonst vor allem auf dem eigenen Zimmer aufgehalten haben, die nun gern den Aufenthaltsbereich nutzen, berichtet Krämer. Hinter dieser neuen Gestaltung auf „alt“ steckt das psychobiografische Pflegemodell nach Professor Erwin Böhm. Laut dessen Untersuchungen sind die ersten 30 Lebensjahre für den Menschen besonders prägend, viele spätere Verhaltensmuster gingen darauf zurück. Und das macht man sich in der Pflege zunutze. Das geht weit über die Gestaltung des Wohnbereichs hinaus. Die Milieugestaltung sei jedoch ein sichtbarer wichtiger Aspekt und sorge für das „Daheimgefühl“.

Mitarbeiter mussten eine Fortbildung absolvieren

Für die entsprechende Zertifizierung mussten alle Mitarbeiter eine Fortbildung machen – rund 100 Stunden mit anschließender Prüfung. Außerdem steige man tief in die Biografie der Bewohner ein. Das sei nicht immer leicht, sagt Elke Penkowski, denn oftmals könnten Kinder über die ersten 30 Jahre ihrer Eltern gar nicht so viel sagen. „Für uns ist es dann großes Glück, wenn wir Jugendfreunde oder Geschwister finden, die uns etwas erzählen können – oder aber wenn derjenige noch selbst dazu in der Lage ist.“ Denn die Bewohner lebten teils in ihrer Prägungszeit, da hinein müssten sich die Pfleger versetzen.

Weil viele Bewohnerinnen Hausfrauen waren, wurde auch eine Waschecke eingerichtet.
Weil viele Bewohnerinnen Hausfrauen waren, wurde auch eine Waschecke eingerichtet. © Heinrich Jung | Heinrich Jung

Diese biografischen Details fließen daher in die Arbeit der Pflegekräfte mit ein, ja sie finden sich teils gar in der Gestaltung des Umfelds wieder. So lebt im Malteserstift auch eine ehemalige Hutmacherin. Vor deren Tür gibt es nun eine Garderobenecke im Stil der 50er. An Haken und auf Ablagen finden sich zahlreiche Hüte. An anderer Stelle gibt es einen Wäschebereich, weil viele der Bewohnerinnen noch klassische Hausfrauen waren. „Und die Bewohner können hier alles nutzen, mit allem arbeiten und sich beschäftigen“, stellt Krämer klar. Das werde von den Alltagshelfern zusätzlich auch gefördert.

Weitere Umgestaltungen geplant

Die Umgestaltungen sind noch nicht alle komplett abgeschlossen. Aktuell suchen die Verantwortlichen noch nach einer Musiktruhe, die sie in den Aufenthaltsbereich integrieren können. Denn auch das sei ein Gerät und Möbelstück, das viele Bewohner noch kennen, erläuter Artur Krämer.Aber auch ein Großprojekt haben sich die Verantwortlichen vorgenommen. Sie wollen einen Raum umgestalten zu einem klassischen Tante-Emma-Laden aus den 1950er-Jahren, berichte Elke Penkowski. Der soll gleich zwei Funktionen übernehmen. Zum einen sollen sich die Bewohner damit beschäftigen können, zum anderen soll er auch tatsächlich als Laden für das Haus genutzt werden, in dem Bewohner Kleinigkeiten einkaufen können. Nun sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter damit beschäftigt, die passenden Möbel und Einrichtungsgegenstände aufzutreiben, denn die fehlten noch, so Elke Penkowski.