Bochum-Wattenscheid. Zwei Garagen und ein Auto verschlang im Jahr 2000 ein riesiger Tagesbruch in Wattenscheid. Anwohnerinnen und Anwohner erinnern sich.
Der 2. Januar 2000 war ein ruhiger Sonntag kurz nach Silvester – und doch wird er für viele Bewohner der kleinen Emilstraße in Wattenscheid-Höntrop unvergessen bleiben. „Wir saßen gerade beim Frühstück, als plötzlich ein Hubschrauber über den Häusern kreiste“, erzählt Anwohner Karl-Heinz Lahne. Er lief zum Fenster und konnte es kaum glauben: „Der Hubschrauber war von RTL! Und darunter liefen ganz viele Leute, wie bei einer Völkerwanderung.“
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Beim Frühstück kreist der Hubschrauber über den Dächern
Ein paar Häuser weiter saß auch Ulrich Küpper mit seiner Frau beim Frühstück, sie sahen den Hubschrauber ebenfalls. „Ich habe noch scherzhaft zu meiner Frau gesagt: Suchen die dich? Hast du was angestellt?“ Merkwürdig kam ihm auch vor, dass auf dem benachbarten S-Bahngleis plötzlich Menschen herumliefen: „Einige hatten Kameras dabei. Da wusste ich: Hier stimmt was nicht.“
In der Tat: Wenige Meter von ihren Häusern entfernt, klaffte plötzlich ein riesiges Loch, das als „Krater von Höntrop“ bundesweit für Schlagzeilen sorgen sollte. Etwa 15 Meter tief, verschlang es ab Hausnummer 41 elf hohe Tannen und zwei Garagen mitsamt einem Auto. Ein zweiter, ebenfalls 15 Meter tiefer Tagesbruch folgte nur einen Tag später. Beide hatten eine Größe von etwa 700 Quadratmetern und zählen bis heute zu den größten Tagesbrüchen, die die Bergbauregion Ruhrgebiet jemals erlebt hat.
Als sich mitten in der beschaulichen Wohnsiedlung die Erde auftat, war Hans-Josef Winkler, der am Wattenscheider Hellweg wohnt, auf dem Weg zur Kirche. „Plötzlich war überall Feuerwehr und Polizei. Die ganze Straße war gesperrt“, erinnert er sich. Denn neben den Nachbarn, die sich verständlicherweise große Sorgen um ihr Hab und Gut machten, gesellten sich rasch auch andere Neugierige dazu: vor allem Pressevertreter und jede Menge Schaulustige. „Manche haben sich absolut prollig benommen“, sagt Ulrich Küpper. Einige sollen versucht haben, auf der Jagd nach den besten Fotos bis zur Abbruchkante zu gelangen, was lebensgefährlich war.
„Am Morgen bin ich zum ersten Mal ins Büro. Am Mittag stand ich schon vor der Fernsehkamera.“
Die Medienmeute in Schach zu halten, das war in diesen denkwürdigen Tagen die Aufgabe von Thomas Sprenger. Der langjährige Pressesprecher der Stadt Bochum erlebte Anfang 2000 seine ersten Tage in diesem Job, was direkt einer Feuertaufe gleichkam: „Ich war vorher Redakteur bei der Bild-Zeitung“, erzählt er. „Am Montagmorgen bin ich zum ersten Mal ins Büro. Am Mittag stand ich schon vor der Fernsehkamera und erzählte live in der Tagesschau, was passiert ist.“
Schnell war ihm klar: Die vielen Pressevertreter, die aus ganz Deutschland nach Wattenscheid kamen, mussten gut geleitet werden. „Am zweiten Tag hatten wir ein Medienzentrum in einem Gemeindehaus in der Nähe eingerichtet, wo auch die Pressekonferenz mit dem damaligen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement stattfand.“
Und die Journalisten hatten viele Fragen. Denn Tagesbrüche hat es in der langen Geschichte des Bergbaus zwar immer mal wieder gegeben, die Folgen sind bis heute sichtbar. Sie entstehen dann, wenn alte Schächte oder Abbaureviere, also Hohlräume, nicht ausreichend gesichert werden. Doch ein Tagesbruch mitten in einem belebten Wohngebiet wie hier an der Emilstraße, 15 Meter tief: Das war spektakulär.
Als Ursache in Höntrop gilt der bereits im Jahr 1904 stillgelegte Schacht vier der Zeche Vereinigte Maria Anna Steinbank, der unter den Häusern entlanglief. Später wurden Häuser auf dem ehemaligen Zechenareal gebaut, der Untergrund wurde immer wieder untersucht. Bei Messungen im Jahr 1999 soll festgestellt worden sein, dass es tief im Berg Verschiebungen von bis zu vier Metern gab. Schließlich gab der Berg nach. Die Wendefläche der Sackgasse an der Emilstraße stürzte in den darunter liegenden Schacht.
Für die unmittelbar Betroffenen direkt an der Abbruchkante hatte das gravierende Folgen: „Einige wohnten monatelang im Hotel“, sagt Ulrich Küpper. „Andere kamen bei Verwandten oder Nachbarn unter.“ All jene, die etwas weiter weg wohnten, kamen mit dem Schrecken davon: „Wir haben eine Weile ernsthaft überlegt, ob wir hier wegziehen wollen, aber es dann doch gelassen“, so Küpper.
25 Jahre später erinnert nichts mehr an die Katastrophenbilder von damals. Wo einst das riesige Loch klaffte, befindet sich heute der wahrscheinlich am besten gesicherte Untergrund in ganz Bochum. „Die ganze Gegend wurde danach komplett mit Beton verfüllt“, erzählt Karl-Heinz Lahne, der die Ereignisse in einem dicken Aktenordner gesammelt hat. „Zwei Jahre hat das gedauert.“
Ruhrgebiet ist ein Schweizer Käse
Dass bei dem Tagesbruch kein Mensch ernsthaft zu Schaden kam, ist bis heute ein großes Glück. „Eigentlich ist das ein Wunder“, meint Hans-Josef Winkler. „Das Ruhrgebiet ist ein Schweizer Käse und der Bergbau zählt zu unserer Geschichte mit dazu. Damit muss man leben.“
Komplett abhaken können die Nachbarn den Vorfall von damals allerdings nicht: „Jedes Mal, wenn ich einen Hubschrauber höre, muss ich daran denken“, sagt Ulrich Küpper. Sein Nachbar Karl-Heinz Lahne beobachtet die Nachwehen der Ereignisse bis heute in seinem Garten, der unter dem Erdreich ebenfalls komplett mit Beton verfüllt ist. „Früher habe ich gelegentlich einen Maulwurf im Garten gesehen“, erzählt er. „Seit 25 Jahren keinen einzigen mehr.“
Kann sich ein Unglück wie in Höntrop wiederholen?
Tagesbrüche in Folge von Bergschäden gibt es in Bochum immer wieder: „Zum aktuellen Zeitpunkt betreut die Bezirksregierung Arnsberg eine Maßnahme zur Sicherung am Buchenhain“, teilt Sprecher Peter Hogrebe mit. „Vier weitere wurden in den letzten Wochen geräumt und abgeschlossen.“ Zu den aufwendigsten Verfüllungen in Bochum zählte zuletzt die Maßnahme an der Hattinger Straße im vergangenen Jahr.
Ob sich solch ein spektakulärer Fall wie in Höntrop wiederholen kann, sei schwer vorherzusagen: „Um Fälle wie Bochum-Höntrop für die Zukunft zu verhindern, betreibt die Bezirksregierung Arnsberg seit 2011 ein Risikomanagement“, erklärt der Sprecher. Ziel sei es, durch präventive Maßnahmen Tagesbruchereignisse zu vermeiden und für die Menschen die größtmögliche Sicherheit zu gewährleisten
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