Dortmund. . Das Revier ist eine Art Schweizer Käse: Tausende verlassene Schachtanlagen durchziehen das Erdreich und sorgen für Probleme an der Oberfläche.

Es war der 2. Januar 2000. Ein Sonntagmorgen. Peter Hogrebe wird diesen Tag nicht vergessen. Sein Diensthandy klingelte. Das Gerät, damals das einzige der Behörde, hatte man dem Dezernenten des Landesoberbergamtes erst kurz zuvor ausgehändigt. Für Notfälle. Nur wenig später stand Hogrebe als einer der ersten am Rand eines Kraters, der als „Höntroper Loch“ in die Geschichte des Landes eingehen sollte. Für Peter Hogrebe, den Bergbauingenieur, war es der Notfall schlechthin.

Der bis heute spektakulärste Tagesbruch in NRW riss mitten in einem ruhigen Bochumer Wohnviertel nicht nur die Anwohner aus dem Schlaf, sondern auch zwei Garagen und ein Auto in die Tiefe. „Der Krater wuchs und wuchs, während wir daneben standen, am Ende hatte er einen Durchmesser von 20 Metern“, erinnert sich Hogrebe, der „alle meine Tagesbrüche“ exakt im Gedächtnis abgespeichert hat – keinen jedoch so sehr wie den 1905 stillgelegten Schacht IV der Zeche Maria Anna Steinbank.

Erste Hilfe für Höntrop war schnell organisiert. Zehn Häuser mit 30 Bewohnern mussten evakuiert, zwei Häuser wegen Einsturzgefahr gesperrt werden. Beton floss in Strömen in die Tiefe des Lochs. Doch noch in der Nacht sackte im Bereich an der Emilstraße nur wenige Meter entfernt nochmals die Erde weg. Das zweite Loch verschluckte einen halben Garten und Geräte des Technischen Hilfswerkes, die dort gerade erst für den Einsatz am ersten Tagesbruch aufgebaut worden waren. „Es grenzte an ein Wunder, dass kein Mensch zu Schaden kam“, sagt Peter Hogrebe.

Tiefgreifende Spuren im Untergrund

Doch in Höntrop versanken damals nicht nur materielle Werte und tonnenweise Füllbeton in den Tiefen eines Tagesbruchs, der seinen Ursprung in einer Schachtanlage aus dem 19. Jahrhundert hatte. Es versank auch ein bis dahin unumstößliches Gefühl von Sicherheit: Der Grund und Boden, auf dem wir uns täglich bewegen, auf dem unsere Wohnhäuser und Arbeitsstätten stehen, ist längst nicht so standfest, wie man es erwarten darf in einem dicht besiedelten Ballungsraum.

Die Erkenntnis vom durchsiebten Revier – dem berühmten „Schweizer Käse“ – war damals zwar nicht neu. Auch vor Höntrop wussten nicht nur Fachleute, dass der Jahrhunderte alte Ruhrbergbau tiefgreifende Spuren im Untergrund hinterlassen hatte. „Früher fehlte es aber einfach an Sensibilität für mögliche Gefahren aus dem Untergrund“, sagt Andreas Welz, Leiter des Dezernats Nachbergbau der Bezirksregierung Arnsberg. Erst in den 1960er Jahren habe das Land begonnen, die Hinterlassenschaften des Bergbaus systematisch zu erfassen und aufzubereiten. „Höntrop brachte dann noch einmal eine völlig neue Sicht auf das Thema“, so Welz. Nach Höntrop habe das Land entschieden, erstmals auch präventiv tätig zu werden.

Präventionsprogramm

Seit 2011 läuft zudem ein landesweites Programm zur systematischen Risikobewertung verlassener Schächte und Stollen, die man keinem Eigentümer mehr zuordnen kann oder deren Altgesellschaften heute nicht mehr existieren. Meist geht es um Altbergbau in bereits erloschenen Bergbauberechtigungen ohne Rechtsnachfolge und um illegal betriebene, oft nicht dokumentierte Schachtanlangen. Betroffen davon ist hauptsächlich das südliche Revier. „Alles südlich der A 40 ist ein Problem“, sagt Andreas Welz. Im Tiefbergbau des nördlichen Reviers sorge allein der „Gebirgsdruck“ dafür, dass Hohlräume sich schnell verdichten. Außerdem sei dort professioneller verfüllt worden als im Frühbergbau des südlichen Reviers. „Im Norden ist nach zehn Jahren Ruhe eingekehrt“, so Welz. Anders im oberflächen- und tagesnahen Bergbau nahe der Ruhr. „Hier erleben wir heute Tagesbrüche, die ihre Ursache in einem Stollen haben, der beispielsweise 200 Jahre alt ist“, erläutert Welz. Meist liege das daran, dass im Frühbergbau Hohlräume nicht gänzlich verfüllt wurden oder das Füllmaterial im Laufe der Zeit absackte. Wasser, Frost und die Beschaffenheit des Gesteins tun ein Übriges. „Es ist dann nur eine Frage der Zeit, bis sich die unterirdischen Hohlräume bis zur Oberfläche durchpausen“, sagt Andreas Welz. Das muss nicht immer in der Katastrophe enden wie in Höntrop. Manchmal sackt die Erde nur im Dezimeterbereich ab. Manchmal aber geht es ganz schnell wie auf einer Rasenfläche in der Nähe eines Mehrfamilienhauses, auf der sich innerhalb von Sekunden über Nacht ein Loch auftat – 200 Meter tief.

„Hitliste“ der Städte

Die Faktenlage lässt übrigens keinen anderen Schluss zu: Das Ruhrgebiet ist „unten rum“ tatsächlich eine Art Schweizer Käse. Stollen, Schächte und unterirdische Hohlräume durchziehen den Untergrund in einer Zahl, die bemerkenswert hoch ist. Die Bergaufsicht geht von 12 000 verlassenen Schächten und Stollen allein im Revier aus. Von den insgesamt 396 NRW-Kommunen sind über die Hälfte mehr oder weniger von den Hinterlassenschaften des Bergbaus berührt.

In einer „Hitliste“ der Städte mit den meisten Schächten und Stollen rangieren Revier-Kommunen nicht ganz überraschend weit oben: Allein in Bochum verortet die Bergbehörde über 3000 Schächte, gefolgt von Essen mit rund 2500, Witten (rund 2300), Dortmund (rund 1500), Hattingen (knapp 1100) und Sprockhövel (rund 800). NRW-weit hat die Bergbehörde 30 000 bergbaubedingte Tagesöffnungen digital erfasst. Insgesamt gehen die Spezialisten von der doppelten Menge verlassener Schacht- und Stollenanlagen aus. Die Auswertung werde noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen, sagt Andreas Welz. Und, ja, auch im Bergbau gibt es natürlich Dunkelziffern. Im Zweiten Weltkrieg gingen viele Unterlagen und Karten von alten Schachtanlagen und ihrer Lage verloren.

Welche Bedeutung der Bergbau im Land einst hatte, das spiegelt sich auch im Glanz seiner Gebäude wider: Das alte Landesoberbergamt im schmucken Dortmunder Kaiserstraßenviertel atmet noch immer vergangene Bergbau-Herrlichkeit. Das 1910 errichtete Gebäude diente über viele Jahrzehnte als Sitz der wichtigsten Bergaufsicht des Landes. Der denkmalgeschützte mehrflügelige Bau mit seinem signifikanten Uhrenturm und noch immer vorhandenem Oberbergamtsgarten fungiert heute offiziell als Dortmunder Außenstelle der Bezirksregierung Arnsberg. Mit der 200 Mitarbeiter starken Abteilung Bergbau und Energie NRW sind an der Dortmunder Goeben-straße aber nach wie vor auch die Bergbau- und Rohstoff-Kompetenzen der NRW-Landesregierung gebündelt. Die Abteilung ist heute die größte Bergbehörde in Deutschland.

Grubenbilder zur Gefahreneinschätzung

Ein nicht nur bergbauhistorisch relevanter Schatz findet sich im weitläufigen Kellerareal des Gebäudekomplexes: In speziell klimatisierten Archivräumen lagern 130 000 sogenannte Grubenbilder, Kartenblätter und Aufrisse von Schachtanlagen aus drei Jahrhunderten: 90 Prozent aller jemals auf dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen kartographierten Zechenanlagen sind hier fein säuberlich archiviert: das Gedächtnis des Bergbaus. Die restlichen zehn Prozent gingen während des Zweiten Weltkriegs verloren.

Weil das unschätzbare Material inzwischen auch komplett digitalisiert zur Verfügung steht, können die Grubenbilder auch zur Gefahrenprüfung bei Bauvorhaben aller Art genutzt werden. Diesen Service bieten die Dortmunder Bergschäden-Spezialisten unter anderem über das Online-Informationssystem „Gefährdungspotenziale des Untergrundes in NRW“ an: www.gdu.nrw.de