Bochum. Über Jahre pflegt eine Frau in Bochum ihre Großmutter, 2022 stirbt diese an einem falsch behandelten Geschwür. Trifft die Enkelin Schuld?
Als der Richter seine abschließenden Worte spricht, lässt die Angeklagte einen tiefen Seufzer fahren, ihre Angehörigen in den Zuschauerreihen applaudieren spontan: Eine 36-Jährige steht vor dem Schöffengericht am Amtsgericht Bochum, angeklagt der fahrlässigen Tötung. Am Ende verlässt sie den Gerichtssaal als unbescholtene Frau. Das Verfahren wird gegen Zahlung einer Geldauflage von 500 Euro eingestellt.
Es geht um den Tod ihrer Großmutter und die Frage: Hätte die Enkelin diesen zum damaligen Zeitpunkt verhindern können? Jahrelang hat die Bochumerin ihre Oma gepflegt. Die Seniorin hatte eine fortschreitende Demenz, konnte am Schluss nicht mehr sprechen, war bettlägerig. Sie starb am 8. November 2022. Todesursache war nach Einschätzung von Rechtsmedizinern ein falsch behandeltes Aufliegegeschwür („Dekubitus“). Als die Wunde am unteren Rücken immer schlimmer und größer wurde, habe sie sich vorgenommen, am nächsten Tag ins Krankenhaus zu fahren, sagt die Enkelin vor Gericht aus. Ehe es dazu kam, war die Frau tot.
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Staatsanwaltschaft Bochum warf der 36-Jährigen fahrlässige Tötung vor
Sie hätte erkennen müssen, dass das Geschwür behandlungsbedürftig war, sagt Staatsanwalt Danyal Maibaum bei der Verlesung der Anklage. Die wirft der Frau vor, keine ärztliche Hilfe gesucht zu haben. Dem Gutachten des Rechtsmediziners zufolge wäre „der Tod nach hinten verlagert worden“, wenn die Wunde korrekt behandelt worden wäre.
Man sieht der jungen Frau auf der Anklagebank ihre Anspannung an. Ihr als Zeuge geladener Vater – der Sohn der Verstorbenen – spricht offen an, wie belastend der im Raum stehende Vorwurf ist: „Meine Tochter hat sich gekümmert bis zum Gehtnichtmehr“, wettert der 61-Jährige, „und muss sich jetzt hier rechtfertigen?!“ Richter Michael Wittenbrink hält dagegen: „Wir wollen niemandem etwas anhängen.“ Die Angeklagte könne sich sicher sein, dass sie ein faires Verfahren bekomme.
Als die Oma nicht mehr alleine wohnen konnte, zog die Enkelin zu ihr
Aufgewachsen mit ihrer alleinerziehenden Mutter, war die Großmutter für sie eine wichtige Bezugsperson, erzählt die Angeklagte. „Oma hat sich um uns gekümmert“, sagt sie. Mehrmals die Woche habe sie bei ihr übernachtet. „Ich war ein Oma-Kind.“
Irgendwann sei es losgegangen mit der Demenz. Zunächst kümmerte sich die Angeklagte im Wechsel mit ihrem Vater um die Großmutter, schließlich aber sei klar geworden, dass „das nicht mehr geht, dass sie alleine ist“. Nachbarn meldeten sich, die Seniorin verließ ihre Wohnung ohne Schlüssel, irrte umher, kam nicht mehr zurecht. „Oma hat immer gesagt, sie möchte nicht ins Heim“, sagt die Angeklagte. „Das war ihr ausdrücklicher Wunsch.“ Deshalb sei sie schließlich mit ihren beiden Töchtern zu ihr gezogen.
„Oma hat immer gesagt, sie möchte nicht ins Heim. Das war ihr ausdrücklicher Wunsch.“
Die gelernte Familienpflegerin hat in ihrer Ausbildung zwar ein kurzes Praktikum bei einem ambulanten Pflegedienst gemacht, etwas Theorie über den Umgang mit Demenz und Lagerung gelernt, selbst aber nie medizinisch gearbeitet. Anfangs sei die Oma körperlich „eigentlich fit gewesen“, erinnert sie sich.
Während sich ihr Vater als gesetzlicher Betreuer um alle Formalitäten kümmerte, stemmte sie den Alltag mit der Großmutter. „Natürlich war das hart“, als die Demenz fortschritt, sagt sie, „aber das kam ja immer so schleichend, nicht von heute auf morgen.“ Deshalb habe sie „jede Phase mitgemacht“. Dazu habe sie sich verpflichtet gefühlt. „Oma hatte sonst niemanden.“
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Frau behandelte Wunde am Rücken der Großmutter auf eigene Faust
Zunächst seien noch gemeinsame Urlaube möglich gewesen, mit der Großmutter fuhr die Familie nach Lanzarote, ins Disneyland. Ab Anfang 2020 war Bewegung nur noch im Rollstuhl möglich, inzwischen hatte die Seniorin Pflegegrad 5, die höchste Stufe. Innerhalb der gemeinsamen Wohnung trug die Enkelin ihre Oma von Zimmer zu Zimmer, wickelte sie und half beim Essen. „Ich hatte schon das Gefühl, dass sie sich wohlgefühlt hat“, sagt sie. In den letzten Wochen habe sie viel geschlafen, nur noch wenig gegessen.
Wann ihr die wunde Stelle am unteren Rücken auffiel, daran könne sie sich nicht mehr erinnern, sagt die 36-Jährige aus. Sie habe versucht, die Großmutter zu lagern, die Wunde auf eigene Faust mit Kortisonsalbe behandelt und mit Pflastern versorgt. Trotzdem sei das Geschwür fortgeschritten, eine Woche lang, vielleicht auch anderthalb, und zum Schluss habe es „heftig“ ausgesehen. Warum sie keinen Arzt konsultierte, sich keine Hilfe holte, fragt Staatsanwalt Danyal Maibaum. „Ich hab gedacht, ich krieg‘ das hin“, sagt die Angeklagte.
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Rechtsmediziner vor Bochumer Gericht: Aufliegegeschwüre nicht ungewöhnlich
Am Nachmittag des 8. November 2022 stellte ein Notarzt den Tod der 84-Jährigen fest, notierte einen äußerst schlechten Pflegezustand der Patientin und zog die Polizei hinzu. 39 Kilogramm wog die Seniorin, berichtet der Rechtsmediziner. Zwölf mal sieben Zentimeter habe die sichtbare, offene Wunde bei der Obduktion gemessen, tieferliegend war sie gar 20 mal 16 Zentimeter groß und reichte bis auf die Knochen.
Es sei, sagt der Arzt vor Gericht, nicht ungewöhnlich, dass immobile Personen Aufliegegeschwüre entwickelten. Dieses hier sei aber „sehr massiv“ gewesen. Kortisoncreme und handelsübliche Heftpflaster seien „überhaupt keine adäquate Behandlung“ gewesen. Er kommt zum Schluss, dass sich bei einer „vernünftigen“ Behandlung der Todeszeitpunkt nach hinten verlagert hätte. Stellt aber auch klar, dass die Seniorin diverse andere Erkrankungen hatte und „am Ende ihrer Lebensspanne“ war.
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Richter in Bochum: Verurteilung wäre „nicht tatschuldgerecht“
Gericht und Staatsanwaltschaft beraten sich, anschließend wendet sich Richter Wittenbrink direkt an die Angeklagte. Es erscheine „nicht tatschuldgerecht, Sie zu verurteilen“, sagt er und fragt, ob sie einverstanden ist mit der Einstellung des Verfahrens gegen Zahlung einer Geldauflage. Die 36-Jährige seufzt erleichtert, nickt. 500 Euro muss sie an den Hospizverein Wattenscheid zahlen. „Danach ist die Sache erledigt“, sagt der Richter.
Stichwort: Vorläufige Verfahrenseinstellung
Das Strafverfahren ist zunächst nach § 153a der Strafprozessordnung (StPO) vorläufig unter Auflagen eingestellt worden. Vorläufig deshalb, weil es erst dann endgültig beendet ist, wenn die Beschuldigte die Auflagen erfüllt hat. Vereinbart wurden fünf Raten von je 100 Euro. Sind die 500 Euro eingegangen, ist das Verfahren eingestellt, die Angeklagte juristisch unbescholten. Sollten Auflagen nicht erfüllt werden, würde die Einstellung widerrufen und das Verfahren fortgesetzt.