Gelsenkirchen. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter des Gelsenkirchener Jugendamtes schlagen Alarm: „Wir sind stark unterbesetzt, wir löschen nur noch Brände“
Das siebenjährige Kind liegt in einem vollgekoteten Bett, überall in der Wohnung türmen sich Müll und Unrat, die Eltern sind offensichtlich völlig überfordert. Als die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gelsenkirchener Jugendamtes endlich eingreifen, ist es fast schon zu spät. Dabei hatte es Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung zuvor durchaus gegeben, aber sie wirkten nicht so dringlich wie in den vielen, vielen anderen Fällen, in denen es bereits zur Eskalation gekommen ist, in denen Gelsenkirchener Kinder von ihren Sorgeberechtigten geschlagen oder misshandelt worden sind.
„Es ist zu viel, einfach viel zu viel“, sagt eine aufrichtig besorgte Mitarbeiterin des Gelsenkirchener Jugendamtes im Gespräch mit der WAZ. Zusammen mit weiteren Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern hat sie sich entschlossen, mit der Redaktion über „die Missstände im Jugendamt infolge der krassen Unterbesetzung“ zu reden. Sie hoffen, wenn öffentlich wird, wie es um das Jugendamt „wirklich steht“, würden die Verantwortlichen in Stadtverwaltung und Politik Abhilfe schaffen. Ihre Namen und Fotos wollen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aber nicht veröffentlicht wissen, weil sie persönliche Konsequenzen durch ihre Vorgesetzten fürchten.
Mitarbeiter des Gelsenkirchener Jugendamts warnen vor drastischen Folgen durch Unterbesetzung
„Wir löschen nur noch Brände, einen nach dem anderen“, berichten die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Präventiv arbeiten, mit Familien zu arbeiten, bevor die Situation eskaliert – das sei kaum möglich. 70 bis 90 Fälle türmen sich auf dem Tisch eines jeden Mitarbeiters. Bei den meisten „Fällen“ handelt es sich um ganze Familien. Experten empfehlen eine Fallzahlgrenze für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Allgemeine Sozialen Dienst (ASD) von 28 bis 40, eine gesetzlich festgelegte Obergrenze gibt es aber nicht.
Bereits jetzt sind rund 20 Stellen im Gelsenkirchener Jugendamt vakant. „Aber selbst wenn alle Stellen besetzt wären, bräuchten wir doppelt so viele Kolleginnen und Kollegen, um den Kindern und Familien gerecht werden zu können. Das ist so frustrierend, so zerstörerisch“, sagt die Mitarbeiterin, die sich inzwischen selber fragt, warum sie sich das noch antut. Die Antwort auf die Frage gibt sie dann sogleich auch selbst: „Wir arbeiten mit Menschen, die unsere Hilfe vielfach dringend brauchen. Es geht um Schicksale, nicht selten um die körperliche Unversehrtheit und das Seelenheil vieler Kinder. Diese Arbeit ist bei allem Elend und Leid, das wir sehen, auch sehr erfüllend – jedenfalls wäre sie es, würden wir nicht so verheizt.“
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Tatsächlich hatte sogar das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt, das nach dem Gelsenkirchener Jugendamtsskandal 2015, im Auftrag der Stadt die Strukturen im Jugendamt prüfen sollte, festgehalten, dass dem Jugendamt 30 Stellen fehlen. Nur zehn seien bisher geschaffen worden. Zusammen mit den 20 ohnehin vakanten Stellen fehlen demnach mindestens 40 Fachkräfte.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter berichten von „Standards“, wie einem Familienberatungsgespräch bei einer Scheidung, die kaum sachgemäß erfüllt würden. Aufgrund der schieren Maße der zu bearbeitenden Fälle könnte Familien meist nur ein Termin mit zwei Monaten Verspätung angeboten werden. „Eine viel zu lange Zeit, in der die Situation mitunter eskaliert und die Kinder zu lange allein und ungesehen dem ausgesetzt sind, was sich hinter verschlossenen Türen abspielt“, berichten die Jugendamtsmitarbeiter resigniert. Für eine aufsuchende, präventive Arbeit hätten sie keine Kapazitäten.
Dabei sei das gerade in Gelsenkirchen besonders ernst, besonders dramatisch. In der Emscherstadt leben Zehntausende Menschen in relativer Armut, betroffen ist fast jedes zweite Kind. [Zum Thema: In kaum einer anderen Stadt in Deutschland leben so viele Kinder und Jugendliche in relativer Armut wie in Gelsenkirchen. Ein Dossier der WAZ Gelsenkirchen.]
Doch schon die Familienbesuche, wenn ein Kind geboren wurde, würden nach Angaben der Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter nur selten stattfinden, weil dafür gar keine Zeit sei: „Dabei ist es eigentlich so wichtig, zu sehen, ob zu Hause alles in Ordnung ist, oder ob das Kind in schwierige, vielleicht sogar gefährliche Voraussetzungen hineingeboren wurde“.
„Viele Brände, um in dem Feuerwehrbild zu bleiben, könnten schon im Vorhinein verhindert werden, wenn wir nur das Personal dafür hätten“, seufzen die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Sie würden auch gerne Lehrerinnen und Lehrer in Gelsenkirchen sensibilisieren, ihnen zeigen, was Hinweise für eine mögliche Kindeswohlgefährdung sind, doch auch dafür bleibe keine Zeit.
Netzwerk zum Schutz von Kindern funktioniere in Gelsenkirchen nicht
Spricht man mit den Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern über das „Netzwerk Frühe Hilfen und Kinderschutz“ der Stadt Gelsenkirchen, ist den Praktikern die Wut und Enttäuschung regelrecht anzusehen. So heißt es auf der Seite der Stadt beispielsweise „mit dem Ansatz einer sehr frühen Unterstützung tritt die Stadt Gelsenkirchen an die Eltern heran, bevor das Kind sprichwörtlich in den Brunnen gefallen ist, und trägt so präventiv und nachhaltig zu einem guten Start bei“. Die Sozialarbeiter begegnen „diesem nicht eingehaltenen Versprechen“ mit steigenden Fällen der Inobhutnahme vernachlässigter oder missbrauchter Kinder. „Es ist ein Teufelskreis: Zu viele Fälle, zu wenig Mitarbeiter, keine Prävention, keine Stabilität und Kontinuität, weil die Leute verheizt werden und kündigen, und am Ende steigt in der Folge auch die Zahl der vollends eskalierten Fälle.
Die Maßnahmen, die die Stadt Gelsenkirchen bisher getroffen hätte, um „der nicht mehr auszuhaltenden Überbelastung“ entgegenzuwirken, seien aus Sicht der Betroffenen jedenfalls unwirksam bis unverschämt. So dürften Fallprotokolle inzwischen zwar stichpunktartig gemacht werden. Gerade aber aufgrund einer nachvollziehbaren schriftlichen Dokumentation würden ja etwa auch Gerichte Urteile sprechen. Zu viele wichtige Informationen würden in einer verknappten Dokumentation fehlen, letztlich vielleicht sogar solche, die die Jugendamtsmitarbeiter selbst juristisch schützen würden.
Dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Gelsenkirchen darüber hinaus tariflich etwas höher eingruppiert würden als anderswo, um beim Wettbewerb um Fachkräfte zu punkten, bedeute für die Angestellten aber de facto weniger Geld als zuvor. Denn im Gegenzug hat die Stadt eine Zulage gestrichen, mit der den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern rund 100 Euro mehr netto zur Verfügung standen. Ihre Nöte und Sorgen, ihre Hilferufe für sich und die Kinder, die auf ihre Hilfe angewiesen sind, sehen die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in Gelsenkirchen von Verwaltung und Politik nicht ernstgenommen. „Was willst du denn, das ist doch nichts Neues“, sei eine der Reaktionen, die sie am häufigsten zu hören bekämen.
„Das geht aber nicht mehr lange gut“, sagt eine Jugendamtsmitarbeiterin leise und doch unüberhörbar.