Gelsenkirchen. Metzgerssohn Heinrich Kirchberg kam 1912 als Hausarzt nach Gelsenkirchen. Heute brennt Urenkel Simon für den Arztberuf – und für sein Ückendorf.
Als Werner Kirchbergs Opa Heinrich am 1. Oktober 1912, also vor 110 Jahren, seine Praxis als praktischer Arzt an der Bergmannstraße 67 in Ückendorf eröffnete, ahnte jener Metzgerssohn aus Thüringen wohl kaum, dass er damit eine ganze Ärztedynastie begründete. Dr. Heinrich Kirchberg begann als Knappschaftsarzt – eigentlich selbstverständlich in der aufstrebenden Bergarbeiterstadt Gelsenkirchen, mit der Zeche Alma und der Siedlung Flöz Dickebank um die Ecke.
Bei Hausgeburten in den ersten Jahren kam nicht nur die Gebärende ins Schwitzen
In jenen Jahren war der „praktische Arzt“ quasi für alles zuständig – inklusive Hausgeburten. Was nicht nur den Gebärenden, sondern auch den Ärzten, die in den engen Wohnungen oft unter extrem schlechten Licht- und Hygienebedingen arbeiten mussten, den Schweiß auf die Stirn trieb. Erfahrung und ein Stethoskop waren die einzigen Hilfsmittel, die zur Verfügung standen. In der Praxis half ein kiloschweres, eisernes Mikroskop beim Untersuchen von Urin und Blut sowie beim Identifizieren von Läusen und Nissen in Haaren, die damals weit verbreitet waren. Erheblich mehr Hilfsmittel gab es nicht. Lesen Sie auch:Viele Hausärzte in Gelsenkirchen wollen sich wehren
Nationalsozialisten bedrängten und bedrohten den Knappschaftsarzt
1936 bereits starb Dr. Heinrich Kirchberg an einem Herzinfarkt. Die Nationalsozialisten hatten gedroht, ihm die Knappschaftszulassung zu entziehen, wenn er nicht der Partei beitrete. „Das hat ihm wohl extrem zugesetzt“, erklärt Enkel Dr. Werner Kirchberg.
Im Krieg übernahm der Onkel, bis Kirchberg Junior das Examen hatte
Dr. Heinrich Kirchberg hinterließ zwei Töchter und einen Sohn, Alfred Kirchberg. Der wollte zwar in die Fußstapfen des Vaters treten, war aber noch nicht mit dem Studium fertig. Unterdessen sprang ein Onkel ein, Dr. Gülker. Er führte die Praxis im Dienst der Familie fort, bis 1947 Sohn Alfred Kirchberg als Mediziner einsteigen konnte.
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In den ersten Jahren war die Praxis in einer Notunterkunft in einem benachbarten Hinterhof untergebracht. 1952 dann ließ Alfred das Mehrfamilienhaus an der Ückendorfer Straße 76 bauen, bis heute der Sitz der Praxis. Bei der Finanzierung hatte die Bergwerksgesellschaft geholfen, die daher lange Jahre das exklusive Belegungsrecht hatte. Eine Ausnahme machte lediglich die Arztfamilie, die über der Praxis lebte. Dr. Alfred mit Ehefrau Dr. Margret Kirchberg – beide in der Praxis aktiv – mit den vier Kindern.
„Wir haben unser Bett nachts in der Praxis aufgeschlagen als Heranwachsende“
„Wir sind quasi in der Praxis aufgewachsen“, erinnert sich Sohn Dr. Werner Kirchberg. Und das ist wörtlich zu nehmen: In der Pubertät schlugen Werner und sein Bruder des Nachts tatsächlich ihr Klappbett in der Praxis auf, weil es ihnen in der Etagenwohnung zu eng wurde. Dass sie sich dabei durch eigene Unachtsamkeit eine Gelbsucht einfingen – die Kirchbergs hatten schließlich als erste Praxis in der Stadt ein eigenes Labor mit vielen Untersuchungsmöglichkeiten – nahmen die Jungs in Kauf.
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„Meine Eltern hatten schon sehr früh ein EKG-Gerät und in den 1960er-Jahren das erste Praxislabor in der Stadt etabliert. Später kooperierten sie mit dem Hygieneinstitut, dem heutigen Eurofins. Heute laufen alle unsere Labor-Untersuchungen dort“, erläutert Werner Kirchberg, der 1981 in die Praxis eingestiegen war, zwei Jahre vor dem Rückzug der Eltern. Dr. Simon Kirchberg begann 2009 als Vertreter der vierten Generation, 2011 kam seine Frau Fatma dazu. Bis 2019 half Vater Werner noch mit.
Die Internistin Fatma Kirchberg nennt sich selbst „ein typisches Gastarbeiterkind. Mein Vater war Stahlarbeiter hier in Ückendorf. Mein Mann und ich haben uns nicht in der Praxis kennengelernt – meine Familie war beim Hausarzt auf der anderen Straßenseite in Behandlung – sondern an der Uni Bochum im Studium“, erklärt die Ärztin. Aus einer Fahrgemeinschaft wurde dann die Lebens- und Praxisgemeinschaft.
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Doch wie hat sich die Arbeit in der Praxis, haben sich die Patienten in den vergangenen Jahrzehnten verändert? „Die Patienten haben sich verändert, ebenso wie der Stadtteil. Es ist noch wichtiger geworden, das soziale Umfeld der Patienten zu kennen, das diverser geworden ist, um diagnostizieren zu können. Und Dr. Google muss oft helfen beim Übersetzen. Man kennt ja nicht unbedingt die rumänische, arabische oder auch ukrainische Bezeichnung aller Organe. Und auch kulturelle Hintergründe zu kennen, ist wichtig“, erläutert Fatma Kirchberg. Lesen Sie auch: Not bei Methadonversorgung in den Praxen droht in Gelsenkirchen
Hausbesuche gehören auch heute noch fest dazu
Generell sei man weiterhin der erste Ansprechpartner für alle Beschwerden, „aber wir überweisen bei Bedarf natürlich an Fachärzte, die früher so nicht zur Verfügung standen. Heute sind Patienten mit chronischen Erkrankungen wie hohem Blutdruck, COPD und Diabetes sowie betagte Menschen mit vielen verschiedenen Erkrankungen unsere Hauptklientel. Die Behandlung in der Praxis und in Kliniken ist allgemein viel strukturierter geworden, was gut ist“, ergänzt Ehemann Simon.
Patienten gehen heute schneller zum Arzt
Hausbesuche sind auch heute noch üblich. „Aber die Patienten sind heute fordernder. Früher hat man dem Arzt mehr Respekt entgegengebracht. Da wurde um einen Hausbesuch nur im Notfall gebeten, das ist heute anders“, hat Werner Kirchberg erlebt.
„Ja, die Menschen kommen heute schon eher, um Beschwerden abzuklären, wo man früher erst abgewartet hat. Wer vorher im Internet gelesen hat, welche Gefahren drohen könnten, möchte dann Sicherheit. Das ist aber auch verständlich“, betont Simon Kirchberg.
Hier sitzt der Bürgermeister neben dem Sozialhilfeempfänger im Wartezimmer
Getrennte Wartezimmer für Privat- und Kassenpatienten gab und gibt es hier nicht. „Bei uns hat schon immer der Bürgermeister neben dem Sozialhilfeempfänger gewartet“, schmunzelt der Senior. In Klagen über Gelsenkirchen mag aus der Familie niemand einstimmen. „Wir bleiben für immer hier, wir leben auch im Stadtteil“, versichert Simon Kirchberg. Es sei wichtig, sich im Umfeld der Praxis auszukennen. Die Gattin trägt ihr Bekenntnis zu #401 Gelsenkirchen sogar auf dem T-Shirt.
Die bereits im Jahr 1643 begründete Thüringer Metzgersdynastie, die Gründervater Dr. Heinrich Kirchberg anno 1912 verließ, um den Weg ins Ruhrgebiet als Mediziner anzutreten, meldete übrigens vor kurzem Insolvenz an. Die Praxis in Gelsenkirchen hingegen dürfte gesichert sein: Die Tochter (11) von Simon (44) und Fatma (43) hat bereits Interesse angemeldet….