Gelsenkirchen. Integration und Image von Gelsenkirchen, Korpsgeist und Kommunalfinanzen: Irene Mihalic, Polizistin und Grünen-Bundestagskandidaten, im Gespräch.

Im aktuellen Grünen-Wahlwerbespot sieht man singende Bienen; eine singende Irene Mihalic kann man sich darin weniger gut vorstellen. Artenschutz, bunte Gesellschaft, Klimapolitik – die 44-Jährige steht auch für die Kernthemen der Partei. Aber vielmehr ist sie die grüne Polizistin, als bisherige innenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion die Expertin für die Bereiche, mit denen man ihre Partei nicht unmittelbar in Verbindung setzt. Ein Gespräch über V-Leute, Korpsgeist und Kommunalfinanzen.

Frau Mihalic, vertrauen Sie den Untersuchungs- und Strafermittlungsbehörden in Deutschland überhaupt noch?

Sie spielen sicher darauf an, dass ich als Bundestagsabgeordnete in drei Untersuchungsausschüssen saß. Mein Vertrauen in den Staat und die Sicherheitsbehörden wurde dadurch nicht erschüttert, nein. Aber in der Tat ist es ein großes Problem, dass in den Behörden oft keine gute Fehlerkultur herrscht. Vieles wird einfach heruntergespielt oder auf individuelles Versagen zurückgeführt. Das wird häufig von den Ministerien so vorgelebt. Es bräuchte eine völlig neue Behördenkultur, man sollte sich eingestehen, dass auch viele systematische Probleme herrschen, um diese zu beheben.

Sie waren Obfrau des Untersuchungsausschusses zum Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz, davor Obfrau im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss. Immer wieder ging es dabei um Probleme mit V-Männern. Liegt hier einer dieser systematischen Fehler?

V-Personen einzusetzen dürfte nur das letzte denkbare Mittel sein. Es geht dabei ja um Kriminelle, Menschen, die vielleicht mal schwere Straftaten begangen haben. Das sind keine Behördenmitarbeiter. Deswegen bräuchte es viel strengere und unmissverständliche Regeln für den Einsatz dieser Menschen.

Irene Mihalic: „Vielleicht ist es für Gelsenkirchen überhaupt nicht wichtig, ein gutes Image zu haben.“
Irene Mihalic: „Vielleicht ist es für Gelsenkirchen überhaupt nicht wichtig, ein gutes Image zu haben.“ © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Sie selbst haben vor ihrer Bundestagskarriere als Polizistin gearbeitet. Wenn innerhalb der Polizei rassistische Witze über Whatsapp-Gruppen kursieren – wie schwierig ist es eigentlich, sich da über den Korpsgeist hinwegzusetzen und so etwas zu melden?

Es ist fast unmöglich. Bei den bekannt gewordenen Fällen waren Vorgesetzte ja sogar selbst beteiligt. Außerdem kann eine Meldung auch die Aufklärung solcher Fälle behindern. Polizisten haben einen Strafverfolgungszwang. Das heißt: Wenn man den leisesten Verdacht hat, dass das Handeln einer Kollegin oder eines Kollegen strafrechtlich problematisch sein könnte, hat man die Pflicht, das anzuzeigen. Wer das nicht oder zu spät tut, macht sich selbst strafbar. Das kann im Extremfall dazu führen, dass niemand bereit ist gegen die Beteiligten auszusagen, weil man für sich selbst Konsequenzen fürchtet. Deswegen brauchen wir eine unabhängige Stelle im Parlament, vergleichbar mit der Wehrbeauftragten, um zu beraten, wie man am besten damit umgeht. Whistleblower aus der Polizei würden so einen Ansprechpartner außerhalb der eigenen Behörde haben.

Sie sind die innenpolitische Sprecherin der Grünen. Wird man Sie im Falle eines Wahlerfolgs Ihrer Partei in einem grünen Innenministerium sehen? [Lesen Sie auch: Flutkatastrophe: Braucht Gelsenkirchen einen besseren Katastrophenschutz?]

Das entscheide ich nicht allein. Außerdem bin ich gerne Parlamentarierin. Ich finde aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir am 26. September keine neue Regierung wählen, sondern den Bundestag. Da sollte man nicht jetzt über die Besetzung von Ministerien sprechen.

Wäre es in Zeiten einer absehbaren Dreier-Koalition überhaupt noch zeitgemäß, einen bis ins Kleinste ausgearbeiteten Koalitionsvertrag abzuarbeiten?

Eine Koalition sollte man nicht schmieden, um durchzuregieren. Wenn man nicht mehr über den Tellerrand schaut, ist das schlecht für unsere Demokratie. Dann findet keine Auseinandersetzung mehr über die beste Lösung statt. Von der Großen Koalition wird aber alles pauschal abgelehnt, was man vorlegt. Wir brauchen einen neuen politischen Stil. Ich will, dass wir das anders machen. Wenn wir in die Regierung kommen sollten wir gute Impulse aus der Opposition mitnehmen. Diese ritualisierten Spielchen müssen beendet werden.

In NRW gab es von 2010 bis 2012 eine Minderheitsregierung aus SPD und Grünen. Wäre das eine Idee für den Bund?

In NRW haben wir gute Erfahrungen gemacht, die Minderheitsregierung hat dem Land gutgetan. Anderseits würde ich nicht sagen, dass sie für den Bund die beste Option wäre, man kann sich auch keine monatelange Hängepartie leisten, weil man sich mit der Opposition nicht einigen kann. Mir geht es viel mehr darum, dass man einen anderen Umgang miteinander findet im demokratischen Prozess, auch wenn man eine eigene Regierungsmehrheit hat.

Landeslistenplatz 3

Gelsenkirchen ist traditionell ein schwieriges Pflaster für die Grünen. 2013 trat Irene Mihalic erstmalig als Gelsenkirchener Direktkandidatin an und holte lediglich 3,7 Prozent der Erststimmen. 2017 holte sie 4,6 Prozent - und landete hinter den Kandidatinnen und Kandidaten der FDP und Linken. Über die Landesliste kam Mihalic dennoch bereits 2013 in den Bundestag. Auch bei der diesjährigen Wahl hat sie sehr gute Chancen, erneut über die Liste einzuziehen: Sie steht dort auf Platz 3, hinter der Parlamentarischen Geschäftsführerin Britta Haßelmann und Vize-Fraktionschef Oliver Krischner.

Kommen wir zu Gelsenkirchen. Aktuell versucht die Stadtspitze, das Thema Wasserstoff in den Fokus zu rücken. Ist das jetzt das nächste Zukunftsetikett: Gelsenkirchen, die Wasserstoff-Stadt?

Wir waren auch mal eine Solarstadt. Und davon ist nicht mehr so viel geblieben. Die Frage ist, ob man immer wieder versucht, neue Etiketten aufzukleben. Ich finde, dass man die Identität der Stadt von der wirtschaftlichen Entwicklung entkoppeln sollte. Natürlich ist eine schlüssige Wasserstoff-Strategie enorm wichtig für den Klimaschutz aber auch, um unseren industriellen Kern unter dem Einsatz von grünem Wasserstoff erhalten. Das sichert die wirtschaftliche Zukunft unserer Stadt, aber es muss kein identitätsstiftendes Label für Gelsenkirchen werden.

Welches Image braucht die Stadt? [Lesen Sie auch: Grüne Gelsenkirchen können sich Kostenlos-Kita vorstellen]

Vielleicht ist es für Gelsenkirchen überhaupt nicht wichtig, ein gutes Image zu haben. Viel bedeutsamer ist doch, dass unsere Stadt funktioniert.

Tut sie das?

In vielen Bereichen nicht – von den Folgen der EU-Südost-Zuwanderung bis zum hohen Erwerbslosenanteil oder der klimagerechten Stadtentwicklung. Ob solche Probleme gelöst werden können, hat auch viel mit der Frage zu tun, ob die finanzielle Situation der Stadt auskömmlich ist. Wir wollen deshalb das Grundgesetz ändern und die regionale Daseinsvorsorge als Gemeinschaftsaufgabe verankern, um gleichwertige Lebensverhältnisse zu fördern. So werden bedürftige Regionen besser unterstützt. Darüber hinaus brauchen wir einen Altschuldenfonds. Wichtig ist, dass wir die Kommunen weiterhin selbst entscheiden lassen, wofür sie Geld ausgeben. [Lesen Sie auch: Wie die Bundesparteien den Ruhrgebiets-Städten helfen wollen]

Sie haben die Zuwanderung aus Südosteuropa angesprochen. Wenn Sie als Grüne zur Bewältigung der Probleme mehr Sozialarbeit fordern, wirft man Ihnen „Laissez-Faire-Politik“ vor, wenn Sie die harte Hand fordern, würden Sie ihr Kernklientel verschrecken. Sind Pluspunkte für die Grünen bei dem Thema aussichtslos?

Nein, überhaupt nicht. Wenn man Menschen als Problem sieht, dann gibt es nur eine Lösung: Sie müssen weg. Aber das kann nicht unser Ansatz sein. Zuwanderung muss man gestalten, sonst passiert eben, was aktuell passiert. Wir müssen die Mittel für die Integration deutlich erhöhen, statt sie – wie die aktuelle Bundesregierung - zu kürzen. Integrationskurse sollten auch EU-Bürgern offenstehen. Aber ein entsprechender Antrag dazu von uns wurde abgelehnt.

Irene Mihalic mit Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock in der Bundespressekonferenz.
Irene Mihalic mit Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock in der Bundespressekonferenz. © AFP | Stefanie Loos

Die fünf Bezirksbürgermeister in Gelsenkirchen, die angesichts der Integrationsprobleme die Zukunft der Stadt in Gefahr sehen, würden vermutlich einen Hals bekommen, wenn sie von niedrigschwelligen Integrationskursen als Problemlösung hören.

Aber auch die Bezirksbürgermeister wissen sicher, was wichtig ist, damit Integration gelingt: der Erwerb der deutschen Sprache, das Erlernen von Regeln, Sozialarbeit. Integration ist nicht zum Nulltarif zu bekommen, man muss in sie investieren. Wenn man das nicht tut, verstehe ich, wenn man sich die Folgen ansieht und einen Hals bekommt.

Wir hätten Sie gerne zu einem Kandidaten-Duell mit AfD-Kandidaten Jörg Schneider geladen. Sie haben abgelehnt. Dabei ist es als Parlamentarierin doch ohnehin ihr Alltag, sich mit den Anträgen der AfD auseinanderzusetzen. [Lesen Sie auch: Gelsenkirchen: Politiker scheuen Debatte mit Jörg Schneider (AfD]

Ich habe in den vergangenen vier Jahren im Bundestag festgestellt, dass es mit der AfD keine inhaltliche Auseinandersetzung geben kann. Der AfD geht es mit ihren Anträgen lediglich darum, die Stimmung aufzuheizen und den Parlamentsbetrieb zu stören. Diese Partei hat kein Interesse an konstruktiven Diskussionen. Im Bundestag muss ich zur Tagesordnung reden, deswegen kontern wir dort deren Anträge. Aber sich hier mit der AfD an einen Tisch zu setzen und eine faire Sachdebatte zu führen, das ist nicht möglich.