Mülheim. Wie es war, in den 1970er und 80er Jahren Reiseleiter bei der Bahn zu sein, beschreibt der gebürtige Mülheimer Rainer Schmitz-Rudolph im Buch.

Rechtzeitig zu Beginn der Urlaubssaison nimmt uns der gebürtige Mülheimer Autor Rainer Schmitz-Rudolph in seinem 390 Seiten starken und reich bebilderten Taschenbuch „Willkommen im Reisebüro Sonderzug“ mit auf eine touristische Zeitreise, bei der der Lesende viel über Länder und Leute erfährt. Was der ehemalige Reiseleiter erlebt hat, als er sich vom ehemaligen Bahnhof Mülheim-Stadt aufmachte in die Welt.

Seit Johann Wolfgang von Goethe wissen wir: „Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen.“ Das kann der 1953 in Mülheim geborene und am Zehntweg in Dümpten aufgewachsene Architekt Rainer Schmitz-Rudolph bestätigen. In seinem jetzt bei Lehmanns erschienen und in der Styrumer Bahnhofsgaststätte vorgestellten Buch „Willkommen im Reisebüro Sonderzug“ erinnert sich der Autor nicht nur an die erste Zugreise seines Lebens, sondern auch an die vielen Reisen auf der Schiene, die ihn zwischen 1972 und 1988 als Reiseleiter im Touropa-Express der Deutschen Bundesbahn kreuz und quer durch Europa und darüber hinaus etwa bis nach Sibirien und China führten.

Mülheimer war im Sommer Reiseleiter und im Winter Student

„Im Wintersemester habe ich studiert und im Sommer bin ich als Reiseleiter mit der Bundesbahn unterwegs gewesen“, erinnert sich Schmitz-Rudolph an die sehr abwechslungsreiche, aber auch sehr fordernde Arbeit, mit der er sein Studium in Köln und Essen finanziert hat.

„Ich habe in dieser Zeit sehr viel über Menschen, Kommunikation und Organisation gelernt, dass mir in meinem weiteren Leben geholfen hat, auch unter schwierigen Rahmenbedingungen kooperativ und lösungsorientiert auf verschiedenen Baustellen mit ganz unterschiedlichen Menschen zusammenzuarbeiten“, schlägt Schmitz-Rudolph den Bogen zwischen seinen beiden Berufsleben als Reiseleiter und als Architekt.

1964 die erste Reise mit Eltern und Geschwistern von Mülheim aus nach Österreich

Am Anfang steht Schmitz-Rudolphs Erinnerung an seine erste Zugreise. Die führte den damals Elfjährigen mit seinen Eltern und seinen beiden jüngeren Geschwistern 1964 nach Österreich. Damals lernte er unter anderem: „Die beste Position im Liegewagen ist immer die mittlere, weil sie allein einen guten Blick aus dem Abteilfenster gewährt.“ 1964 startete die Zugreise in den Österreich-Urlaub noch am Bahnhof Mülheim-Stadt, der erst ab 1974 unter dem Haltestellen-Namen Mülheim Hauptbahnhof angesteuert wurde. Bis dahin war der heutige S-Bahnhof West, der sogenannte Zementbahnhof, gleich vis-à-vis der Friedrich-Wilhelms-Hütte, Mülheims Hauptbahnhof. Dort war gut 100 Jahre vor Schmitz-Rudolphs erster Urlaubszugreise, am 1. März 1862, der erste Zug in Mülheim ein- und abgefahren.

Rainer Schmitz-Rudolph (zweiter von links) in der Bahnhofsgaststätte Mülheim-Styrum im Kreise ehemaliger Kollegen bei der Vorstellung seines Buches „Willkommen im Reisebüro Sonderzug“.
Rainer Schmitz-Rudolph (zweiter von links) in der Bahnhofsgaststätte Mülheim-Styrum im Kreise ehemaliger Kollegen bei der Vorstellung seines Buches „Willkommen im Reisebüro Sonderzug“. © Unbekannt | Schmitz-Rudolph

Mitte der 1960er Jahre mussten Zugreisende noch eine Bahnsteigkarte lösen, ehe sie in den D-Zug nach Essen einsteigen durften. Essen war damals die nächste Zusteigemöglichkeit zum Alpen-See-Express Richtung Österreich. Ehe es sich Rainer Schmitz-Rudolph und seine beiden jüngeren Geschwister im Liegeabteil gemütlich machten, winkten sie einer befreundeten Familie, die an der Winkhauser Bahnstrecke wohnte, wie vorher vereinbart, mit ihren weißen Taschentüchern zu. Der Gruß wurde von den daheim- gebliebenen Freunden in Winkhausen mit weißen Bettlaken erwidert, die sie aus dem Fenster gehängt hatten.

Anfang der 1970er Jahre bekam der Reiseleiter 125 D-Mark für 50-Stunden-Tour

1964 genoss der am Zehntweg in Dümpten beheimatete Rainer Schmitz-Rudolph als Schüler der katholischen Volksschule an der Aktienstraße, die 1980 zum Stadtarchiv umfunktioniert werden sollte, seine Sommerferien. Jahre später sollte er als Reiseleiter Fahrgäste des Alpen-See-Expresses nach Österreich begleiten.

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Begonnen hatte seine Reisebegleiter- und Reiseleiter-Karriere, mit der er das Nützliche mit dem Angenehmen verband, 1972. Damals baute er am Berufskolleg Kluse sein Fachabitur und hatte gerade ein Betriebspraktikum bei der Deutschen Bundesbahn absolviert. Über diese Schiene kam er zum Team der Liegewagen-Begleiter. Für seine erste 50-Stunden-Tour von Dortmund nach Villach und wieder zurück, bekam er 125 D-Mark. „Damals fuhren mehr Menschen mit dem Zug in ihren Auslandsurlaub. Das Fliegen war damals viel teurer als heute. Erst mit dem Aufkommen der Billigfluglinien kam 1993 das Ende der Touropa-Züge. Aber angesichts des Klimawandels und der ökologischen Fragwürdigkeit von Billig- und Kurzstreckenflügen erlebt der Liegewagen wieder eine Renaissance“, beschreibt Schmitz-Rudolph die Zeitläufte unserer Verkehrswenden.

Als Lunchpakete gab es hartgekochte Eier und Fleisch aus der Konservendose

Waren die Urlaubs-Zugreisen in die europäischen Nachbarländer für immer mehr Touristen und Reiselustige erschwinglich, so hatte es Schmitz-Rudolph als Reiseleiter auf seinen zum Teil mehrwöchigen Langstreckenreisen in die damals noch existierende Sowjetunion oder in die Volksrepublik China mit gut betuchten Ruheständlern zu tun. Diese gut zahlenden und anspruchsvollen Fahrgästen hatten wenig Verständnis dafür, wenn der Reiseleiter in der Sowjetunion die georderten, aber nicht gelieferten Lunchpakete kurzfristig und nur mit Hilfe guter Beziehungen durch Brot, hartgekochte Eier und Fleisch aus der Konservendose kompensieren musste.

Als Reiseleiter erlebte Schmitz-Rudolph auch Zeitgeschichte, etwa wenn er Heimweh-Touristen aus dem ehemaligen deutschen Osten auf ihren Reisen ins ehemalige Ostpreußen begleitete oder im ersten Solidarnosc-Streik-Sommer 1980 den Auftrag bekam, mit einem Sonderzug westdeutsche Touristen aus dem damals noch kommunistisch regierten, aber politisch bereits rebellierenden Polen nach Hause zu holen.

Mülheimer Reiseleiter schüttelte Papst Johannes Paul II. die Hand

Unvergessen bleiben Schmitz-Rudolph auch die Begleitung von Pilgerfahrten nach Lourdes, inklusive Lazarettwagen, und nach Rom, wo er in einem Kloster übernachtete und dem damaligen Papst Johannes Paul II. bei einer Audienz die Hand schütteln konnte.

Am liebsten waren seinen Kollegen und ihm die Heimat-Touristen, die sie in den sogenannten Gastarbeiter-Zügen südwärts in den Heimaturlaub begleiteten. „Diese Fahrgäste waren immer gut gelaunt und trinkfreudig, was unseren Getränkeumsatz steigerte. Das war für uns lukrativ, weil wir als Reisebegleiterteam in den Gastarbeiter-Zügen Getränke auf eigene Rechnung verkaufen und uns so ein schönes Zubrot verdienen konnten“, berichtet Schmitz-Rudolph.

Rainer Schmitz-Rudolphs im klassischen Reiseführerformat bei Lehmanns erschienenes „Willkommen im Reisebüro Sonderzug“ ist für 24,95 Euro im Buchhandel zu bekommen.

Kuriose Reisebekanntschaft

Wenn man den ehemaligen Zug-Reiseleiter mit Ursprungsbahnhof Mülheim nach seinem skurrilsten Erlebnis auf der Schiene fragt, erinnert er sich gerne an den älteren Herrn, der sich nachts im Schlafanzug beim Toilettengang verlief und so im falschen Kurswagen landete. So fuhr seine schlafende Frau nachts in Richtung Landeck und ihr verirrter Gatte in Richtung Innsbruck.Schmitz-Rudolph und seine Kollegen verschafften dem unfreiwillig abgehängten Fahrgast im Schlafanzug in Kufstein eine Schaffneruniform, in der er unbehelligt und kostenlos mit einem Zug nach Innsbruck fahren und so wieder ehelichen Anschluss am gemeinsamen Urlaubsziel bekommen konnte.