Mülheim. Der Streit um Gewerbeflächen und Wirtschaftsförderung ist auf die Spitze getrieben. Mülheims Wirtschaft stellt zur Wahl zehn Forderungen auf.

Der Masterplan Industrie und Gewerbe gescheitert, vergebliches Tauziehen um ein Zukunftsdezernat, jetzt das zur Unkenntlichkeit zerbröselte Wirtschaftsflächenkonzept: Vor der Kommunalwahl ist Mülheims Wirtschaft nicht gut auf Stadtspitze und die Kommunalpolitik zu sprechen. Sie formuliert es klar: Mülheim stehe wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand. Die Wirtschaftspolitik sei endlich in den Fokus zu rücken.

In allen Städte-Rankings sei Mülheim in den vergangenen Jahren nach hinten durchgereicht worden. Die Wirtschaftspolitik in Mülheim lasse Verlässlichkeit vermissen, sagte der Vorstandsvorsitzende des Mülheimer Unternehmerverbandes, Hanns-Peter Windfeder, zur Präsentation von zehn Kernforderungen der Mülheimer Unternehmer zur Kommunalwahl.

Unternehmerverband: Wirtschaftsbelange stehen in Prioritätenliste ganz weit unten

Die aktuellen Entwicklungen rund um das Flächenkonzept und die Wirtschaftsförderungsgesellschaft seien nur das I-Tüpfelchen auf einer Entwicklung der vergangenen mindestens zehn Jahre. „Die Belange der Unternehmen und die Entwicklung des Wirtschaftsstandortes Mülheim stehen auf der Prioritätenliste von Politik und Verwaltung in dieser Stadt ganz weit unten“, so Windfeder.

Das sei der Grund, warum Mülheim als Wirtschaftsstandort kaum noch konkurrenzfähig sei, sagt der Verbandsvorsitzende mit Verweis auf die rasante Entwicklung der Arbeitslosenzahlen, die im Ruhrgebiet seinesgleichen sucht. Aber auch mit Blick auf das Kommunalranking des Instituts der deutschen Wirtschaft, das die Dynamik am Wirtschaftsstandort mit Platz 394 von 396 NRW-Kommunen bewertet. „Mülheim zehrt als Wirtschaftsstandort von seiner schwindenden Substanz“, so Windfeder.

Windfeder: Es brennt weiter lichterloh

Nach dem politischen Scheitern des Wirtschaftsflächenkonzeptes „brennt es weiter lichterloh“, sagt Windfeder mit Blick darauf, dass Mülheim dringend zusätzliche Einnahmen zu generieren habe, um die berechtigten Rufe nach Investitionen in zahlreichen Bereichen der Stadt nachkommen zu können. Die Politik müsse nun endlich Antworten liefern, wo das benötigte Geld herkommen solle.

Eine eben solche Mahnung hatten am Donnerstag im Stadtrat auch SPD und BAMH an ihre Ratskollegen adressiert, als (bei Enthaltung von SPD, Bündnis für Bildung und Jochen Hartmann) allerdings jener Antrag einstimmig durchging, mit dem die zuletzt heiß diskutierten Potenzialflächen im Winkhauser Tal, am Fulerumer Feld, am Auberg und auf den Saarn-Selbecker Höhen zu Tabuflächen für eine gewerbliche Nutzung erklärt werden.

Kritik der SPD an Wirtschaftskonzept der Konkurrenz: Untauglich, um die Armut zu bekämpfen

Die Debatte im Stadtrat verlief entsprechend dem nahenden Wahltermin. Grüne, CDU, MBI, FDP, Wir aus Mülheim gestatteten der düpierten SPD keine Einzelabstimmung zu einzelnen Punkten, auch einzelnen Flächen des Antrag, und betonten ihren Dank an das Engagement der Bürgerinitiativen für den Erhalt der Freiflächen. SPD-Fraktionschef Dieter Spliethoff betonte ebenso den „fairen, sachlichen Umgang“ der Bürgerinitiativen mit seiner Partei.

In dem Beschluss der politischen Konkurrenz sieht er indes „ein fatales Signal in Richtung Armutsbekämpfung“, da die Sachkoalitionäre mit ihrem Beschluss auch ein neues Wirtschaftsförderungskonzept einfordern, das vorrangig den Fokus auf wissensbasierte Wirtschaftsentwicklung legen soll. „Das sind nicht die Arbeitsplätze, die in dieser Stadt Armut verhindern können“, greift das für Spliethoff deutlich zu kurz.

Tilgner (CDU): Arbeitswelt und Flächenbedarf ganz anders nach Corona

Von dem Ziel, mehr Einnahmen für den Haushalt zu erzielen, ist die Politik weiter meilenweit entfernt. Ohne die Stärkungspaktmittel und die 39-prozentige Grundsteuererhöhung hätte die Stadt weiter ein kräftiges Defizit, so Martin Fritz, OB-Kandidat des BAMH mit Kritik daran, dass die Stadt sich schon wieder auf den Weg mache, Gewerbeflächen für Wohnungsbau freizugeben. So auf dem Tengelmann- und dem Rumbaum-Areal.

SPD-Parteichef Rodion Bakum erwartet, dass schon im November bei der Einbringung des Etats wieder überdeutlich wird, dass Einnahmen zu steigern seien und die Wirtschaft zu fördern sei. Dem pflichtete auch der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU, Henner Tilgner, bei. „Das Thema Gewerbeflächen ist nicht zu Ende.“ Allerdings müsse angesichts der Corona-Auswirkungen eine neue Bestandsanalyse her. „Arbeitswelt und Flächenbedarf werden sich ganz anders darstellen nach Corona.“

Erlebt Vermeulens alter Masterplan eine Renaissance?

Mülheims Strategiedebatte zur Zukunft des Wirtschaftsstandortes ist wieder auf Null gesetzt. Zwischen den Zeilen deutete Planungsdezernent Peter Vermeulen an, dass sein vor zwei Jahren von der Politik als unzureichend einkassierter Masterplan für Industrie und Gewerbe womöglich eine Renaissance erfahren könnte. Vermeulen hatte seinerzeit eine behutsame wirtschaftliche Entwicklung Mülheims ohne Flächenverbräuche skizziert – und hatte damit massiven Widerstand der Wirtschaft provoziert.

>> Die zehn Kernforderungen der Wirtschaft im Wortlaut


1. Kommunaler Wirtschaftspolitik mehr Gewicht geben

Wir brauchen in Mülheim ein neues Grundempfinden für die Bedeutung einerstarken regionalen Wirtschaft. Die vielfältigen wirtschaftspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten müssen als Querschnittsaufgabe über alle Politik und Verwaltungsstrukturen hinweg verstanden und angegangen werden. Darüber hinaus sind klare Verantwortlichkeiten für wirtschaftliche Themenstellungen in der Verwaltungsstruktur dringend notwendig.


2. Wirtschaftsförderung neu ausrichten

Die Struktur, Aufgaben und strategische Ausrichtung der kommunalen Wirtschaftsförderung sollten möglichst zeitnah überarbeitet, in ein neues Konzept überführt und dann schnellstmöglich konsequent umgesetzt werden.


3. In der Politik einen Konsens zum Wirtschaftsstandort MH finden

Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass es in der Mülheimer Politik keine klare Positionierung zum Wirtschaftsstandort Mülheim gibt, die bei wichtigen Entscheidungen tatsächlich auch in Handeln umgesetzt wird. Hier muss eingrundsätzlicher Konsens gefunden werden.


4. Investitionsfreundliche Flächenpolitik betreiben

Mülheim benötigt dringend eine aktive Standortpolitik mit Anreizen für Erweiterungen und Neuansiedlungen. Nur so kann ein Aufholprozess überhaupt eingeleitet werden. Ziel von Mülheim muss es sein,unternehmerisches Engagement bestmöglich durch eine investitionsfreundliche und vorausschauende Flächenpolitik zu fördern.


5. Verwaltung wirtschaftsfreundlich ausrichten

Die Verwaltung muss sich mehr denn je als serviceorientierter Dienstleisterverstehen, um unsere Unternehmen schnell und unbürokratisch bei ihren Herausforderungen zu unterstützen. Beschwerdemanagementsysteme und Zufriedenheitsbefragungen können dabei helfen, die Wirtschaftsfreundlichkeit in den Verwaltungen zu stärken. Auch ist es notwendig, Verwaltungsabläufe stetig auf Vereinfachungspotenziale hin zu überprüfen. Insbesondere zügige und planbare Planungs- und Genehmigungsverfahren sind ein zentraler Standortfaktor für Investitionen und Arbeitsplätze. Die Mülheimer Verwaltung sollte dringend wieder das Zertifikat „Mittelstandsfreundliche Verwaltung“erlangen.


6. Investitionen stärken

Mülheim muss zukünftig noch stärker Prioritäten setzen und durchverantwortungsvolle Haushaltspolitik die finanzielle Handlungsfähigkeit von morgen sichern. Die Stadt muss ihre Finanzkraft mit einer gewerbefreundlichen Politik nachhaltig stärken. Gerade jetzt gilt es, Schwerpunkte zugunsten vonInvestitionen zu setzen und konsumtive Ausgaben zurückzufahren.


7. Steuersätze senken

Es muss Konsens in der Mülheimer Politik und Verwaltung sein, dass es beiden Steuern keinen weiteren Spielraum nach oben gibt – im Gegenteil. Innerhalb der nächsten Legislaturperiode muss es das Ziel sein, Gewerbe- und Grundsteuerhebesätze deutlich zu senken.


8. Attraktive Rahmenbedingungen schaffen

Um die dringend benötigten Fachkräfte mit ihren Familien für Mülheimgewinnen zu können, ist es eine zentrale Aufgabe der Mülheimer Politik und Verwaltung, für attraktive Rahmenbedingungen zu sorgen. Das betrifft die Bereiche: Wohnen und Arbeiten – eine bedarfsgerechte Kinderbetreuung – ein sehr gutes, breites Bildungsangebot – attraktive Ganztagsangebote –moderne, zukunftsorientierte Verkehrslösungen – einen attraktiven ÖPNV – einlebendiges Kultur- und Freizeitangebot.


9. Digitalisierung strategisch und ganzheitlich vorantreiben

Die Corona-Krise zeigt, dass die Kommunen zukünftig noch deutlich „digitalerdenken“ müssen. Es werden umfängliche Digitalstrategien benötigt, um auf die Herausforderungen und notwendige Rahmenbedingungen der Digitalisierung vorbereitet zu sein. Insbesondere die Mülheimer Verwaltung muss das Thema dringend ganzheitlich und strategisch angehen.


10. Umwelt und Wirtschaft in Einklang bringen

Gerade auf kommunaler Ebene gilt es, wirtschafts- und umweltpolitische Ziele so gut wie möglich in Einklang zu bringen und nicht gegeneinanderauszuspielen. Klimaschutz und die Transformation des Energiesystems finden auch vor Ort statt.