Oberhausen. Rund hundert Prostituierte gibt es in Oberhausen. Der Hilfsverein Solwodi wirft ein Schlaglicht auf ihre Not – die unabhängig von Corona ist.

Eine Bitte hat Petra Jochheim, Leiterin der Oberhausener Prostituierten-Beratungsstelle Solwodi, gleich am Anfang des Gesprächs: „Schreiben Sie bloß nicht Sexarbeit.“ Die Erklärung folgt in deutlichen Worten: „Ist das Arbeit – jede Körperöffnung zur Verfügung zu stellen? Arbeit muss auch Würde zulassen.“ Dass dies mit Prostitution unvereinbar ist, erfährt die Rechtsanwältin bei ihrer Tätigkeit für Solwodi, bei der sie die Frauen zu Ärzten und Behörden begleitet, ihnen in Notsituationen eine Unterkunft besorgt und sie unterstützt, wenn sie sich für einen Ausstieg entscheiden. Jochheim weiß auch, wo die rund hundert Oberhausener Prostituierten sich jetzt gerade aufhalten und wie es ihnen geht – in Zeiten, in denen die Bordelle in der Flaßhofstraße geschlossen sind.

„Die Wohnungsprostitution ist in vollem Gange“, beobachtet Petra Jochheim. Mit wenigen Klicks könnten Freier im Internet eine Frau finden, die ihre Dienste anbietet – als Hausbesuch, an einem verabredeten Ort im Freien oder in Hotels. Und auch wenn die Anwältin schon vieles aus der Szene kennt, überrascht und entsetzt sie doch immer wieder, wie weit die Frauen in diesen Online-Anzeigen gehen. Eine „Zafira“ biete zum Beispiel nebst einer langen Liste von Sex-Praktiken auch Foto- und Video-Aufnahmen an. „Ist das etwas, was ein so junges Mädchen freiwillig macht?“ Sind die Bilder einmal im Umlauf, seien die jungen Frauen noch weiter ausgeliefert – ihren Zuhältern, die sie damit erpressen können.

Fast alle Frauen kommen aus Rumänien und Bulgarien

95 Prozent der Prostituierten in Oberhausen kommen nach den Zahlen der Solwodi-Leiterin aus dem Ausland, 90 Prozent davon aus Rumänien und Bulgarien. Die meisten sprechen kaum oder gar kein Deutsch. Und: „95 Prozent machen das nicht freiwillig.“ Es ist Petra Jochheim wichtig, dies immer wieder zu betonen. Es handle sich hier nicht um die selbstständige Domina, die einem in Talkshows begegne, sondern um Opfer von internationalem Menschenhandel. „Im Grunde ist das Sklaverei.“ Die jungen Frauen würden mit der Aussicht auf einen Job angelockt oder fielen in Chats auf sogenannte Loverboys herein.

Ansprüche der Freier gestiegen

Nach Beobachtung des Beratungsvereins Solwodi bieten in Oberhausen so gut wie keine deutsch-stämmigen Frauen ihre Sexdienste mehr an. Der Grund dafür sei, dass junge Mädchen aus Bulgarien und Rumänien dazu gezwungen werden, alle möglichen und unmöglichen Wünsche der Freier zu erfüllen, meint Petra Jochheim, Leiterin der Oberhausener Solwodi-Beratungsstelle. Deshalb sei auch der Anspruch der Freier an Sexpraktiken gestiegen. „Und da sagen die deutschen Frauen dann, das mache ich nicht mehr mit.“Man müsse den Männern klarmachen, dass es nicht richtig ist, was sie tun, wenn sie eine Frau für Sex bezahlen. Petra Jochheim fordert ein gesellschaftliches Umdenken: „Wenn wir sagen, jede Frau hat das Recht, ihren Körper zu verkaufen, dann hat auch jeder Mann das Recht, den Körper einer Frau zu kaufen.“ Und dies könne und dürfe ja wohl nicht sein.

Einmal im Milieu gelandet, hätten sie kaum die Chance, aus eigener Kraft wieder herauszukommen. „Sie werden bedroht und erpresst. Die Zuhälter sagen: Wir zeigen deinen Eltern die Fotos oder: Wir stecken das Haus deiner Familie an.“ Manche schafften es dann doch, in die Heimat zurückzukehren. „Aber wenn die Frauen hier weglaufen und in Rumänien in ihrem Dorf wieder auftauchen, dann ruft der Polizist dort den Zuhälter in Deutschland an und sagt ihm Bescheid.“ Diese Art von Korruption sei es auch, die die Frauen davon abhalte, sich hier an Behörden zu wenden und um Hilfe zu bitten.

Das Bild der selbstbestimmten Prostituierten, das immer wieder durch die Medien geistere und auch vom „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen“ propagiert werde, macht Petra Jochheim richtig wütend. Denn ihre Einschätzung zur Prostitution in Deutschland ist glasklar: „Hier handelt es sich um organisierte Kriminalität.“ Und dies sei von der Corona-Pandemie völlig unabhängig. Auch wenn die Krise erneut zeige, in welchem Elend die Frauen leben.

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Etwa 180 Euro pro Tag müssten die Prostituierten an Miete und Verpflegung für ein Zimmer in der Flaßhofstraße bezahlen – pro Freier erhalten sie aber nur 15 bis 20 Euro. Wenn sie die Frauen zum Arzt oder Amt begleitet, erlebe sie immer wieder, dass diese nicht einen einzigen Euro in der Tasche haben. Auch eine eigene Wohnung als Rückzugsort hätten die Frauen nicht. So hat Solwodi schon nach einer Abtreibung oder für eine Prostituierte, die schon mit Mitte 30 unter permanenten Blasenentzündungen und Magenkrämpfen litt, eine Unterkunft organisiert. Dort konnten sich die Frauen zumindest kurz auskurieren.

Zitternd, hungrig, fast nackt und verängstigt

Besonders in Erinnerung geblieben ist Petra Jochheim der Einsatz bei einer Frau, die aus dem Bordell anrief. „Sie war vollkommen aufgelöst und hatte keine Kleidung außer ihrer Unterwäsche“, erzählt sie. Frierend und zitternd habe sie erklärt, dass sie kein Geld für die Pille danach habe. Was genau vorgefallen war, weiß Petra Jochheim bis heute nicht. Doch sie konnten ihr das Medikament besorgen und auch etwas zu essen, denn sie hatte seit 24 Stunden nichts mehr zu sich genommen. Von einem Freier, der hätte helfen können, sei weit und breit nichts zu sehen gewesen, und auch die Frauen in den Zimmern nebenan seien in Notsituationen nur Konkurrentinnen. Petra Jochheim hat seitdem jedenfalls immer Kleidung im Kofferraum – in ziemlich kleinen Größen.

Neben mehr Einsatz von der Polizei vor Ort gibt es laut Petra Jochheim nur einen Weg, um die Situation der Zwangsprostituierten zu verbessern: eine Gesetzesänderung, die das Milliarden-Geschäft verbietet. Das Nachbarland Frankreich sei mit einem solchen Sexkaufverbot äußerst erfolgreich. „Man könnte das Geschäft eindämmen und erreichen, dass Deutschland nicht mehr so ein großer und begehrter Markt ist für Menschenhandel.“ Und, ihre vielleicht größte Hoffnung: „Gesetze schaffen Kultur.“

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