Gelsenkirchen-Schalke-Nord. ZF in Gelsenkirchen durchläuft wie die gesamte Kfz-Industrie seit Jahren einen Transformationsprozess. Mit dabei: Betriebsratschef Ugur Coskun.

Klassische Lenkungssysteme werden vornehmlich bei ZF im Werk Gelsenkirchen gefertigt, Ford ist der Hauptabnehmer. Das ist seit weit über einem Jahrzehnt die Konstante im Betrieb. Ansonsten hat sich etliches geändert oder ist im Umbruch an der Freiligrathstraße – angefangen bei der Besitzerstruktur über die Ausrichtung des Standorts bis zum Portfolio. Es soll 2022 ein neues Produkt geben, das helfen soll, die Produktion für die Zukunft sicherzustellen.

Der ZF-Betriebsrat hat vor 32 Jahren als Akkordarbeiter angefangen

Die Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte hat, eine weitere Konstante, ein Beschäftigter mitgemacht, auch mit beeinflusst: Ugur Coskun, gelernter Heizungs- und Lüftungsbauer, ist seit 32 Jahren in der Firma, hat dort als Akkordarbeiter angefangen, wurde später Einrichter, engagierte sich zudem gewerkschaftlich. Seit 2008 ist der 51-Jährige freigestellter Betriebsrat, seit 2020 auch 2. Bevollmächtigter der IG Metall Gelsenkirchen. Den erfolgreichen Kampf gegen die Schließung des Standorts in Schalke-Nord hat Coskun 2018 maßgeblich mitorganisiert, auch schon den Stellenabbau 2012 erlebt. 120 Beschäftigte verloren damals ihre Arbeit. Das prägt.

Im Mai 2018 kündigte ZF das Aus für den Produktionsstandort Gelsenkirchen an

Proteste kennzeichneten das Frühjahr 2018. Damals kündigte die Konzernleitung in Friedrichshafen das Aus für das Werk in Gelsenkirchen an. Bei einer der Demonstrationen der Belegschaft sprach auch der damalige Oberbürgermeister Frank Baranowski.
Proteste kennzeichneten das Frühjahr 2018. Damals kündigte die Konzernleitung in Friedrichshafen das Aus für das Werk in Gelsenkirchen an. Bei einer der Demonstrationen der Belegschaft sprach auch der damalige Oberbürgermeister Frank Baranowski. © Funke Foto Services GmbH | Olaf Ziegler

Das Firmenschild am Betrieb an der Freiligrathstraße hatte sich mit dem Besitzerwechsel 2015 erneut geändert. TRW Automotive, ein Weltkonzern, war vom ebenfalls international agierenden Konzern ZF übernommen worden. Am Ende des Milliarden-Deals stand einer der weltweit größten Automobilzulieferer mit über 140.000 Mitarbeitern. ZF Friedrichshafen (mit bis dato etwa 70 000 Beschäftigten) übernahm die TRW Automotive Holdings Corp. „Es gibt Bedenken, aber derzeit keine großen Sorgen“, bewertete Ugur Coskun als TRW-Betriebsratsvorsitzender 2014 den bevorstehenden Deal. Er sollte sich irren. Im Mai 2018 kündigte ZF am Konzernsitz in Friedrichshafen das Aus für den Produktionsstandort Gelsenkirchen an. 350 Stellen dort - von insgesamt 510 - waren bedroht. Die Begründung: Mangelnde Standortperspektiven.

+++ Sie wollen keine Nachrichten aus Gelsenkirchen verpassen? Dann können Sie hier unseren kostenlosen Newsletter abonnieren +++

Der Widerstand war groß, der Protest wurde - politisch - breit getragen und erreichte die Eigentümer und Stiftungsspitzen, die den Konzern mit 260 Standorten weltweit führen. Die Schließung wurde 2018 abgewendet, dem Werk ein Transformationsprozess verordnet. Vorgesehen ist, dass die Produktion in kleinerem Umfang erhalten bleibt und um ein Technologiezentrum ergänzt wird. Mittelfristig sollen am Standort wieder fast 400 Mitarbeiter beschäftigt sein. Industriearbeitsplätze werden dabei Ingenieurstellen weichen. „220 Arbeitsplätze haben wir abgebaut. Das war die Kröte, die wir schlucken mussten“, sagt Coskun. Gleichzeitig wird die Belegschaft wieder kontinuierlich aufgebaut – auf aktuell 310. Etliche junge und sehr qualifizierte Kollegen aus Darmstadt, Ingolstadt oder Frankfurt sind bereits nach Gelsenkirchen gekommen. Auch bilden wir zum ersten Mal im dualen System Studenten aus. Das zeigt: Das Revier ist für solche Arbeitskräfte interessant“, findet Coskun.

In Schalke-Nord an der Freiligrathstraße ist der Gelsenkirchener ZF-Standort. Im Werk wird der Betrieb umstrukturiert. 2022 soll zudem ein neues Produkt produziert werden.
In Schalke-Nord an der Freiligrathstraße ist der Gelsenkirchener ZF-Standort. Im Werk wird der Betrieb umstrukturiert. 2022 soll zudem ein neues Produkt produziert werden. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Das Thema Lenkungen, betonen die ZF-Vertreter bereits 2018, sei für den Konzern, eine Schlüsseltechnologie zum autonomen Fahren und damit ein Zukunftsfeld. „Wir investieren global massiv in den Bereich Lenkungssysteme und wollen hier Technologieführer werden.“

Der Transformationsprozess ist auch wegen Corona ins Stocken geraten

Lenksysteme für Pkw stellt ZF im Werk Gelsenkirchen her. Künftig sollen hier auch Prototypen entwickelt und zur Serienreife gebracht werden.
Lenksysteme für Pkw stellt ZF im Werk Gelsenkirchen her. Künftig sollen hier auch Prototypen entwickelt und zur Serienreife gebracht werden. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Reibungslos läuft der Transformationsprozess nicht: „Wir liegen auch durch Corona hinter unserem Plan“, so Coskun. Investitionen seien 2020 gestoppt worden. „Aber Ende 2021, Anfang 2022 wird sich viel ändern in unserer Fabrik. Dann gehen die neuen Anlagen in Betrieb und wir hoffen, dass wir dann durch das Tech-Center im Rücken gestärkt aufgestellt sind.“

Von der Zahnradfabrik zum Weltkonzern

ZF ist, Stand 2020, mit weltweit 160.000 Mitarbeitern an rund 260 Standorten in 41 Ländern vertreten. ZF steht für Zahnradfabrik. 1915 wurde das Unternehmen als Zahnradfabrik GmbH zur Herstellung von Zahnrädern und Getrieben in Friedrichshafen am Bodensee gegründet.Bei ZF ist seit Sommer 2020 die Schließung von Standorten kein Tabu mehr. Für Werke, die innerhalb von zwei Jahren kein „Zukunftsbild“ erarbeiteten, werde eine Schließung ab 2023 nicht ausgeschlossen.Die Konzernführung einigte sich mit den Betriebsräten und der Gewerkschaft auf einen Tarifvertrag, der den Erhalt aller Standorte vorsieht und bis Ende 2022 betriebsbedingte Kündigungen ausschließt. Bis dahin solle die strukturelle Neuausrichtung des Konzerns vorangetrieben werden.Vereinbart wurde eine dauerhafte Regelung zur Senkung der Arbeitszeiten nach Auslaufen der Kurzarbeit. Geschaffen wurde die Möglichkeit, die Arbeitszeit „in allen Tarifgebieten“ um 20 Prozent zu senken, zudem trennt sich ZF über Altersteilzeit und Abfindungen von Personal.

Für den Konzern sollen in Schalke-Nord Produkte für den Einsatz in Nutzfahrzeugen und Pkw kreiert und zur Serienreife gebracht werden. Der bestehende Entwicklungsbetrieb Düsseldorf wird dafür im Schalker Werk aufgehen. „Es ist das erste mal in unserer Geschichte, dass wir ein Entwicklungsstandort werden“, sagt Coskun. Ein Großteil der Veränderungen sollte bereits 2020 abgeschlossen sein. Der Prozess stockte, wegen der Pandemie und der weltweiten Krise der Branche. Die Automobilindustrie muss sich ein großes Stück weit neu erfinden: E-Mobilität, Emissions-Senkungen oder teilautomatisiertes Fahren sind die großen Zukunftsthemen, auf die Zulieferer wie ZF reagieren müssen.

„ZF steht zu der Vereinbarung, die das Unternehmen 2019 zum Erhalt des Standorts Gelsenkirchen getroffen hat. Unsere Zusagen gelten weiter“, auch wenn sich die Automobilwelt in rasantem Tempo grundlegend verändere, macht ein Konzern-Pressesprecher deutlich. Die Investitionsplanung für den Aufbau dieses Technologiezentrums läuft – im aktuellen Planungsprozess sind zunächst bis zu zehn Millionen Euro eingestellt. Die Corona-Pandemie mit drastischen Umsatzeinbrüchen habe „diesen Transformationsprozess verzögert“, gut 200 Mitarbeiter im Werk sind aktuell und noch bis Ende April in Kurzarbeit in Umfang von rund fünf bis 15 Prozent. „Derweil sind die ersten 40 Ingenieure in Gelsenkirchen bereits in der Projektarbeit und entwickeln Fahrerassistenzsysteme und Lenkungen.“

Ugur Coskun ist zuversichtlich: „Wir entwickeln Neues. Das ist ein sehr gutes Zeichen für den Standort.“