Gelsenkirchen. Mitte 2019 wurde der Klimanotstand in Gelsenkirchen ausgerufen. Trotzdem ist der Klimaschutz weiterhin „nur eine Fußnote“, kritisieren Aktivisten.

Nur Symbolpolitik oder ein bedeutendes Zeichen für die Bekämpfung des Klimawandels? Als im Sommer vor zwei Jahren in vielen NRW-Städten – und im Juli 2019 auch in Gelsenkirchen – der Klimanotstand ausgerufen wurde, gab es in Politik und Bevölkerung gemischte Gefühle. Was aber hat es tatsächlich gebracht, den Klimanotstand in Gelsenkirchen auszurufen? Die Stadt hat dazu jetzt eine Bilanz vorgelegt.

Jede Entscheidung der Stadt soll auf Folgen fürs Klima untersucht werden

Mit dem vor zwei Jahren beschlossenen Antrag von SPD und CDU hatte der Rat der Stadt anerkannt, dass die aktuellen Pläne und Maßnahmen nicht ausreichen, um die Erderwärmung bis 2050 auf 1,5 Grad zu begrenzen. Die Eindämmung des vom Menschen beeinflussten Klimawandels wurde ab jetzt zu den städtischen Handlungsfeldern gezählt, denen „höchste Priorität“ eingeräumt wird.

Maßnahmen in Gelsenkirchen wurden im Wesentlichen an drei Stellen gesehen: Erstens sollte die Stadt das Klimakonzept 2030/2050 weiterentwickeln, zweitens regelmäßig über die Erfolge und Schwierigkeiten beim Klimaschutz berichten und drittens alle Entscheidungen auf Klimafolgen untersuchen – und wenn möglich, klimafreundlichere Handlungsmöglichkeiten vorziehen. Seitdem werden Beschlüsse einem „Nachhaltigkeitscheck“ unterzogen. [Lesen Sie auchKommentar zum Klimanotstand: Wichtig - aber ja doch nur eine Show. ]

Nur sehr wenige Entscheidungen der Stadt haben negative Folgen fürs Klima

Zum dritten Punkt hat die Stadt nun eine Auswertung vorgelegt. Ein Ergebnis: Nur sehr wenige Entscheidungen der Stadt haben negative Folgen für das Klima. Im Betrachtungszeitraum Januar bis Juni 2020 wurden 148 Beschlussvorlagen einbezogen. Bei zirka 62 Prozent der Vorlagen wurde keine Klimarelevanz gesehen, bei 13 Prozent eine positive und bei acht Prozent eine negative Auswirkung.

Etwa neun Prozent der Vorlagen konnten trotz Prüfung nicht eindeutig beurteilt werden. Zudem weisen aus Sicht des Umweltreferates zirka 13 Prozent der Vorlagen eine fachlich nicht zutreffend bewertete Klimarelevanz auf. Die Stadt wertet das als gutes Ergebnis, das Prüfverfahren habe sich bewährt – und hält zugleich fest: Transparente Darstellungen der Prüfung von klimafreundlichen Alternativen seien bislang wenig erfolgt. Das Prüfverfahren will man deshalb künftig weiter verbessern und eine „Wissens-Datenbank“ weiter füttern, die eine Basis für schnelle und fachlich richtige Prüfungen liefert.

SPD-Politiker: Sogar im Sport wird jetzt aufs Klima geachtet

Weil sich jeder Verwaltungsbereich durch den „Nachhaltigkeits-Check“ mit Klimafolgen auseinandersetzen muss, habe automatisch ein „gewaltiges Umdenken“ in vielen Bereichen stattgefunden, findet Manfred Leichtweis, SPD-Ratsherr und 2019 wie auch heute Vorsitzender des Umweltausschusses. „Bereiche, die früher dachten, dass das Klima mit ihnen nichts zu tun hat, gehen nun ganz anders an das Thema heran.“ Als Beispiel nennt Leichtweis die Sportpolitik: Durch den Klimanotstand werde viel kritischer beurteilt, ob man nun einen Kunstrasen braucht oder nicht. „Es wird mehr darauf geschaut, unter welchen Bedingungen ein Kunstrasenplatz angelegt wird, dass er zum Teil auch die Versieglung einer Fläche bedeutet.“

Mit dem Klimanotstandsbeschluss wurde auch die Ortsgruppe von Fridays for Future (FFF) in den Klimabeirat der Stadt einbezogen. Der Beirat hat die Aufgabe, konkrete Maßnahmen zu entwickeln und arbeitet derzeit auch an dem neuen Klimakonzept der Stadt. Dass FFF-Sprecher Jan Bretinger und seine Mitstreiter seit Monaten also aktiv die Klimastrategie der Stadt mitgestaltet haben, ist auch ein Ergebnis des Klimanotstandes. Zufrieden mit den bisherigen Auswirkungen des Beschlusses ist er trotzdem nicht. Die Klimaverträglichkeit werde bei den Verwaltungsvorlagen zwar stets aufgeführt, allerdings eher „als Fußnote wahrgenommen“, so der 19-Jährige. „Es wird aufgeschrieben und mitgedacht, aber weiter diskutiert oder als ausschlaggebend betrachtet wird die Klima-Auswirkung nicht.“

Fridays for Future: Dringlichkeit des Klimaschutzes wird weiterhin nicht erkannt

So hätte der Klimaaktivist etwa gehofft, dass sich in der Politik mal jemand auf den Klimanotstand berufen würde, um eine dringliche Entscheidung hervorzurufen. Stattdessen werde aber bei jeder größeren Idee darauf verwiesen, dass man sie ins Klimaschutzkonzept schreiben werde. „Man tut so, als hätte man weiterhin noch sehr viel Zeit“, sagt Bretinger. Dass 2019 beauftragte neue Klimakonzept soll – coronabedingt – nun allerdings erst 2022 fertig werden. „Ich mache für den Verzug niemanden verantwortlich, aber man sollte deswegen nicht unterlassen, jetzt schon zu handeln.“ [Lesen Sie auch: Neues Gesetz beschlossen: Ist das jetzt genug Klimaschutz?]

Dass die Dringlichkeit des Klimaschutzes trotz Notstandsbeschluss von großen Teilen der Politik noch nicht verstanden werde, macht Bretinger am Beispiel der von FFF Anfang 2021 beantragten, kurzfristig einzurichtenden „Pop-Up-Radwege“ deutlich. Diese wurden von SPD und CDU mit dem Argument abgewiesen, man wollte lieber richtige Radwege statt kurzfristige bauen – was natürlich wieder seine Zeit dauert. Für Bretinger mahlen die Mühlen von Kommunalpolitik und Stadtverwaltung weiterhin viel zu langsam. „Wenn man dem Text des Klimanotstandsbeschlusses wirklich folgen würde, hätten wir längst weitere Maßnahmen zementiert haben müssen.“