Essen. Persönlichkeitsspaltung? Wer ist wer? Ein rätselhafter, großartig gemachter Film: „Enemy“ mit Jake Gyllenhaal und Isabella Rossellini basiert auf einem Roman des Literaturnobelpreisträgers José Saramago – und führt in eine Welt voller rätselhafter Doppelungen.
Die Bilder wirken verblichen, grau in grau präsentiert sich hier eine Großstadt, die Toronto sein könnte, deren Identität jedoch nicht wirklich festzumachen ist. Und seltsam grau wirkt auch dieser Adam Bell (Jake Gyllenhaal), Uni-Professor für Geschichte, der immer wieder den gleichen Vortrag hält vor emotionslos vor sich hin stierenden Studenten. Wie der Vortrag, so ist auch sein Leben: Jeder Tag sieht aus wie der vorherige, selbst das allabendliche Erscheinen der erstaunlich attraktiven Freundin (Mélanie Laurent) samt ewig gleichem Sex erinnert weniger an Leidenschaft denn an ein zu absolvierendes Ritual.
Es ist eine seltsame Welt, in die uns der kanadische Regisseur Denis Villeneuve („Die Frau, die singt“) in seinem Film „Enemy“ entführt. Und sie wird noch seltsamer, als Bell sich eines Tages von einem Kollegen einen Videofilm empfehlen lässt, in dem er plötzlich im Bildhintergrund einen Doppelgänger entdeckt, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Der Professor löst sich aus der tristen Endlosschleife seines Daseins und ermittelt, dass es sich bei dem Betreffenden um den Kleindarsteller Anthony Claire handelt, der verheiratet ist und dessen Frau derzeit ein Kind erwartet. Dieser Typ ist in jeder Beziehung die Alpha-Version des antriebslosen Adam – nur so strotzend vor körperlicher Fitness, mit einer starken Persönlichkeit ausgestattet, leidenschaftlicher Motorradfahrer und der Damenwelt trotz Gattin nicht abgeneigt.
Kafka und David Lynch
Logisch wäre nun, dass man sich gemeinsam einem DNA-Test unterzöge, dass man im jeweiligen Familienkreis nachforscht oder die Geschichte gar publik machen würde. Aber Logik zu demonstrieren, das ist gerade nicht die Absicht dieses Films, bei dem es sich um eine sehr freie Adaption des Romans „Doppelgänger“ von Nobelpreisträger José Saramago handelt. Villeneuve will eine unwirkliche Atmosphäre erzeugen, wie man sie etwa aus den Filmen eines David Lynch kennt.
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Sicher nicht von ungefähr hat der Regisseur die Rolle von Adams Mutter mit Isabella Rossellini besetzt, die zentrale Figur in Lynchs großem Erfolg „Blue Velvet“. Und da Franz Kafka als großes Vorbild des 2010 verstorbenen Buchautors Saramago galt, ist auch eine Verwandtschaft Bells mit Josef K. nicht von der Hand zu weisen. Mehr und mehr gleicht der Film einem Albtraumgebilde, in das auch der Zuschauer immer tiefer eintaucht. Die leeren Straßen wirken wie Landschaften, in denen sich Bell und sein Doppelgänger verlieren. Existieren hier am Ende tatsächlich beide? Oder ist der eine nur die Wunschvorstellung des anderen? Haben wir es am Ende mit einer gespaltenen Persönlichkeit zu tun? Aber wer beherbergt sie dann? Fragen über Fragen, und der Film gibt nur zögerlich Antworten.
Dass Kafkas Horrorgeschichte „Die Verwandlung“ hier beteiligt ist, zeigt schon das erste Bild. Es führt in das düstere Hinterzimmer eines Herrenclubs, in der lüsterne Männer, darunter Gyllenhaal in einer seiner beiden Identitäten, einer kaum bekleideten Tänzerin dabei zusehen, wie sie eine Vogelspinne in ihren Auftritt mit einbezieht. Dieses Spinnenmotiv wird auch später noch aufgenommen und entlädt sich in einem monströsen Schlussbild, über das man noch lange grübeln kann. „Enemy“ ist so ein Film für denkende Zuschauer, die nicht alles mundgerecht serviert haben möchten, die eher stilles Glück dabei empfinden, wenn sie wie in den vertrackten Filmen eines David Lynch Anhaltspunkte für immer neue Theorien entdecken. Oder die das Unerklärliche als Faktum hinnehmen und es einfach genießen.