Essen. Das Drama „Blau ist eine warme Farbe“ wurde in Cannes mit drei Goldenen Palmen ausgezeichnet. Mit dem Film über die Liebe zweier junger Frauen provoziert Regisseur Abdellatif Kechiche. Die langen und expliziten Sexszenen haben Begeisterung hervorgerufen, aber auch heftige Ablehnung herausgefordert.

Seit Abdellatif Kechiches eher freie Verfilmung von Julie Marohs Graphic Novel „Blau ist eine warme Farbe“ gleich drei Goldene Palmen, den Hauptpreis und die Preise für seine beiden Hauptdarstellerinnen, in Cannes gewonnen hat, begleiten ihn heftige Diskussionen. Die ungewöhnlich langen und recht expliziten Sexszenen haben Begeisterung hervorgerufen, aber auch heftige Ablehnung herausgefordert. Sogar von Pornographie war schon die Rede. Ein Vorwurf, der so verfehlt ist wie die Konzentration auf eben diese Szenen.

Intimität der Gefühle

Natürlich provoziert Kechiches Film einer so ungestümen wie unbedingten Liebe, die gleich einer Flamme hell auflodert, um schließlich nach und nach zu verglimmen. Er will den Betrachter direkt ins Herz treffen, ihn bewegen, aufrütteln und auch verstören. Das Unmittelbare der Liebe, die Intimität der Gefühle verwandelt sich in Bilder, die keine Distanz mehr kennen und erst recht keine Scham. Also sind Kechiche und sein Kameramann Sofian El Fani immer ganz nah dran an Adèle (Adèle Exarchopoulos), die zu Beginn der Erzählung gerade 15 Jahre alt ist, und der einige Jahre älteren Emma (Léa Seydoux).

Gerade noch hatten Adèle und ihre Mitschüler im Französischunterricht über Marivaux’ Roman „Das Leben der Marianne“ diskutiert und sich dabei vor allem über das Konzept der ‚Liebe auf den ersten Blick’ unterhalten. Und schon erlebt die noch etwas unsichere, sich selbst suchende Jugendliche ihren eigenen ‚Marivaux-Moment’.

Der Moment, der alles veränderte

Adèle ist auf dem Weg zu ihrem ersten Date mit einem Jungen aus der Stufe über ihr, als sie beim Überqueren einer Ampel Emma sieht. Ihre Blicke treffen sich; die Zeit steht für einen Augenblick still. Emma, die Kunststudentin mit den blauen Haaren, ist Arm in Arm mit einer anderen Frau unterwegs. Dennoch dreht sie genauso wie Adèle den Kopf nach hinten, um den Augenkontakt mit der Fremden etwas länger zu halten. Etwas Schicksalhaftes liegt in diesem Moment, der für Adèle alles verändern wird.

Abdellatif Kechiche setzt immer wieder Augenblicke wie diesen in Szene. Sein Blick geht trotz einer Lauflänge von drei Stunden immer wieder ins Detail. Ein Leben als Folge von Schlüsselmomenten. So beschwört er eine fast schon überhitzte Stimmung herauf, deren Temperatur den ganzen Film über niemals sinkt. Eine Tour de force für das Publikum wie für seine beiden Hauptdarstellerinnen. Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux scheinen sich in jeder Szene komplett zu verausgaben. Etwas Verschwenderisches liegt in ihrem Spiel, eine betörende und zugleich auch schmerzliche Offenheit. Vor allem Adèle Exarchopoulos versagt sich jegliche Schutzmechanismen. Immer wieder sieht man ihr Gesicht in Groß- und Nahaufnahmen. Es ist fast so, als könnten sich Kechiche und der Kameramann Sofian El Fani einfach nicht von ihrem Mund, der meist etwas offen ist, lösen.

Adèles unersättlicher Appetit, die wilde Leidenschaft, mit der sie Spaghetti isst und Austern schlürft, und die betörende Selbstvergessenheit, mit der sie lächelt und küsst, schmatzt und staunt, sind für Kechiche der Schlüssel zu dieser Lebens- und Liebesgeschichte.

Er feiert den Heißhunger und die Begeisterung dieses Mädchens, das sich nach anfänglichem Zögern ohne Vorbehalt ins Leben und in ihr Schicksal stürzt, mit der ganzen Kraft des Kinos. Und eben diese Leidenschaft prägt auch die zu Unrecht berüchtigten Sexszenen. In ihrer extremen, ganz und gar schutzlosen Körperlichkeit gleichen sie den Party- wie auch den Essensszenen.

Das Innere im Äußeren

Das ist auch ein filmisches Experiment. Kechiche sucht das Innere im Äußeren. Anders als einem Romanautor, der ohne weiteres die verborgenen Gedanken seiner Figuren offenbaren kann, bleiben Kechiche nur Oberflächen. Also geht er so nah wie möglich an die Gesichter und Körper heran, lässt den Blick der Kamera auf ihnen verweilen. Immer in der Hoffnung, dass sie ihr Geheimnis preisgeben. Doch eben die Hoffnung bleibt letztlich trügerisch. Keine Großaufnahme kann Adèles innerste Gedanken und Gefühle ganz einfangen. Sie bleiben ihr Geheimnis. Und genau daran scheitert dieses Experiment schließlich.

Kechiches ständiges Drängen und seine an sich mutige Distanzlosigkeit bekommen etwas Enervierendes. Hier versucht sich ein Künstler mit Gewalt am Unmöglichen und vergisst darüber letztlich alles andere.

2013 - ein herausragendes Jahr

Für das schwul-lesbische Kino war 2013 ein bemerkenswertes Jahr. „Blau ist eine warme Farbe“ war der große Cannes-Gewinner. Indessen konnte Alain Guiraudie mit „Der Fremde am See“, seinem radikalen Porträt der Cruising-Szene, ästhetisch wie erzählerisch Maßstäbe setzen.
Zudem hat sich Stephan Lacants „Freier Fall“ zum Überraschungserfolg in den heimischen Programmkinos entwickelt. Die Dreiecksgeschichte um einen jungen Polizisten und angehenden Vater, der sich in einen Arbeitskollegen verliebt, war eines der reizvollsten deutschen Filmdebüts des Jahres.

Wertung: Drei von fünf Sternen