Essen. Reinhold Beckmann wollte mit seinen Gästen eigentlich über das zerstrittene Europa diskutieren. Dann kam die Abhör-Affäre um das Handy von Kanzlerin Merkel dazwischen. Von der neuen Agenda der Sendung überrumpelt, mussten die Gäste mit dem Spagat zwischen zwei Gesprächsthemen fertig werden.
Die Redaktionen hatten sich eigentlich bequem eingerichtet: Während am Donnerstagabend Maybrit Illner im Ersten über die Prunksucht der katholischen Kirche debattierten wollte und Markus Lanz in seinem Talk ein buntes Potpourri an "Nicht-Themen" bot, sollte es zur gleichen Zeit bei Reinhold Beckmann um Europa gehen: um das zerstrittene Europa, einem Kontinent, taumelnd zwischen Finanz-Nöten und Asyl-Problematiken.
Eigentlich. Doch dann, dann kam das "Handy-Gate". Das Ende der NSA-Affäre wurde kurzerhand für nicht mehr beendet erklärt. Am Mittwoch hatte der Spiegel herausgefunden, dass die US-Geheimdienste auch das Diensthandy der Bundeskanzlerin abgehört haben sollen. Und die Talkshow-Redaktionen mussten sich etwas einfallen lassen. Sollte das Kanzlerinnen-Telefon doch als Top-Thema unbedingt noch einen Platz in den TV-Sendungen finden.
Merkel-Phone als Friedensstifter für zerstrittenes Europa
So dachte sich die Beckmannsche Redaktionssitzung wohl: Europa und die USA, da war doch was. Gerade erst forderte das EU-Parlament das Swift-Abkommen mit der US-Regierung einzufrieren. Bestellte nicht der französische Außenminister den amerikanischen Botschafter zum Rapport? Ist das #merkelphone also gar eine Chance für ein Europa in Friede-Freude und Einigkeit? Beckmann will’s wissen. Und wagte den großen Brückenschluss. Über Europa, die NSA und natürlich das Merkel-Phone.
Und die Gäste waren ja bereits bestellt: Martin Schulz, EU-Parlamentspräsident,Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der "FAZ", Christopher Clark, australischer Historiker und Professor für Neuere Europäische Geschichte in Cambridge und Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Ausgewiesene Euro-Kenner und seit der Beckmann-Sendung auch kurzerhand Mobilfunk-Experten.
Die falschen Gesprächspartner für eine NSA-Debatte
In ihren Spezialgebieten wirkten die Damen und Herren am Abend stets kompetent. Der große Bogen bis hin zur deutsch-amerikanischen und damit auch europäischen Außenpolitik aber wollte nicht gelingen. So offenbarte etwa der vom Euro-Gipfel aus Brüssel angereiste Martin Schulz, dass kein Regierungschef mit ihm über das Abhör-Thema reden wollte. Wohl ein Sinnbild dafür, dass diese in ihm - anders als Beckmann - nicht den richtigen Gesprächspartner gesehen haben.
Auch der zweite im Bunde machte keine wirklich bessere Figur: „Realer“ wäre die Empörungsdebatte nun für die Menschen, seitdem es auch die Kanzlerin getroffen hat, meinte Frank Schirrmacher. Dass die Öffentlichkeit sehr wohl schon seit dem Sommer protestierte und aktuell am meisten Politiker und Journalisten über das Gebärden der USA lamentieren, ging wohl berufsbedingt an ihm vorbei.
Merkel-Handy weicht Europa-Visionen
"Ich kann es auch nur vermuten": Ein Satz wie eine Überschrift von Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Bestimmten die Schlagworte Naivität und Nichtwissen, nicht nur in Bezug auf die Bundeskanzlerin im Umgang mit der NSA-Affäre, sondern auch auf die Talkgäste in der Folge die TV-Runde.
Und weiter: "Hat Obama überhaupt noch die Kontrolle über seine Geheimdienste" Antworten dazu sollte wieder Schulz geben, der sich sichtlich Mühe gab, von Natur gegebenen Problemen bei 18 Geheimdiensten alleine in den USA zu sprechen. Nachzulesen übrigens bei Wikipedia.
Mit dem "Verlust der Souveränität" fand sich plötzlich auch wieder das eigentliche Thema Europa in der Sendung wieder. Nur durch Transnationalität könne diese wieder erlangt werden, so die einstimmige Meinung der Runde. Der einzelne Staat zähle nicht mehr, könne von einer Supermacht wie den USA auch nur missbraucht werden. Und dazu gehöre auch der jeweilige Regierungschef führte Schulz weiter aus.
Gäste reden sich beim Thema Europa doch noch warm
Und bei Europa warmgeredet, legte der SPD-Politiker weiter nach: Selbst Dystopie-Autor Georg Orwell fand Platz in seinen warnenden Worten einer Google-bestimmten Welt. Und wieder ein Sinnbild. Professor Clark, sesshaft in Großbritannien, verwies auf die Ungleichheit der technischen Voraussetzungen. Gar von "Entmündigung" sprach daher Schirrmacher, wenn er auf die weltweit führende Technik aus USA und China verwies.
So schaffte es die Talk-Runde endlich von Rätselraten über das Merkel-Handy hin zu einer Debatte über eine europäische Vision zu gelangen. Und hier gewann sie auch ihre Stärke zurück. Auch Beckmann tat gut daran, Fragen zum Merkel-Handy endgültig auf lautlos zu stellen.
Überforderung entwickelt sich zu angeregter Diskussion
Vielmehr wurde nun, wenn auch nur noch kurz, über Innereuropäische Scharmützel gesprochen, die überwunden werden müssen: Ziel der Politik sei nicht mehr die Sicherheit des nationalen, sondern europäischen Bürgers, stellte Schulz noch einmal klar. Auch mahnende Worte wurden laut. Euro-Skepsis dürfe nicht die Oberhand gewinnen. Eine humanere Flüchtlingspolitik müsse Einzug halten und das mahnende Beispiel des ersten Weltkrieges, welches Clark in seinem Buch eindrucksvoll auf die heutige Situation übertrug, Lehre aus der Vergangenheit sein.
Wenn der Zuschauer eine große Entrüstung gegen amerikanische Abhörpraktiken erwartete, konnte er sich Beckmann nur falsch verbunden fühlen: Denn während die Talkgäste in der ARD zuerst mit dem Durcheinander zweier Themen überfordert wirkten, entwickelte sich mit der Zeit ein echtes Gespräch. Nicht über ein Kanzlerinnen-Handy, sondern über die Wettbewerbsfähigkeit von Europa.
Maybrit Illner lud ursprüngliche Gäste wieder aus
Und so war Maybrit Illner zur selben Zeit dann doch deutlich resoluter: Die nämlich lud kurzerhand ihre Kirchengäste aus, und das selbsternannte Who-ist-Who der Sicherheits- und Spionage-Experten ein. Doch ob diese Gäste ein im Dunkeln-Tappen wie zu Beginn der Beckmannschen Runde verhinderten, bleibt fraglich.