Essen. Bei „Wer wird Millionär“ kommt man ohne Wissen nicht weit. Wie aber kommt man überhaupt auf den Ratestuhl? Glaubt man RTL, dann zählen bei der Auswahl Glück und etwas Wissen. Ein Ex-Bewerber widerspricht: Er hat das Auswahlverfahren als gezielte Suche nach privaten Skurrilitäten erlebt.

Maik ist 20-mal umgezogen, Stefan hat seinen Heiratsantrag in der Achterbahn gemacht, und Jens war der erste Kondomtester Deutschlands. Drei Details zu drei Kandidaten, die zuletzt ihr Glück bei „Wer wird Millionär“ versuchten. Die Vorstellungsrunde mit mehr oder weniger skurrilen Anekdötchen gehört mittlerweile fest zum RTL-Dauerbrenner-Quiz. Wer gewinnen will, muss viel wissen. Gut, wenn er dabei noch unterhaltsam ist.

Da werden die Fragen auf dem Ratestuhl manchmal glatt zur Nebensache: Wenn ein Rentner zwischen 1000 und 2000 Euro von Bekanntschaften in der Ukraine plaudert. Oder eine forsche Abiturientin Moderator Günther Jauch mit Unwissen und Beratungsresistenz beinahe in den Wahnsinn treibt.

Wo bekommen die nur solche Leute her?

Vom „Wer wird Millionär“-Auswahlverfahren desillusioniert

Alexander Mirschel hat da so seine Theorie: Sucht sich die Produktionsfirma gezielt passende Typen? Den „Showkandidat als ‚Verkaufsware’“, wie es der 26-jährige Frankfurter in seinem „Niedblog“ umschrieben hat? Er selbst hat sich als Kandidat bei „Wer wird Millionär“ beworben. Und ist nach dem Auswahlverfahren einigermaßen desillusioniert.

„Dass bei RTL viel gefaked ist, war mir bewusst“, sagt Mirschel im Gespräch mit DerWesten und spielt damit auf Scripted-Reality-Formate wie „Mitten im Leben“ oder „Die Schulermittler“ an. Bei ihm selbst und im Bekanntenkreis habe aber immer der Eindruck geherrscht: „Nicht beim Jauch!“ Doch beim Jauch?

RTL will nicht viel verraten über die Kandidatenauswahl

Viel verrät RTL nicht über die Kandidatenauswahl für die von Endemol produzierte Quizshow. Auf Nachfrage wird betont, dass die Kandidaten „die ganze Bandbreite der Bevölkerung“ abbilden sollen: „Alt und jung, klug und weniger klug, dick und dünn, eloquent und weniger eloquent.“

Wie aber schafft man es auf den berühmten Stuhl im Fernsehstudio? Glaubt man der RTL-Homepage, dann ist das ganz einfach: „Sie wollen auch einmal die Chance auf eine Million Euro nutzen und wollen sich den 15 Fragen von Günther Jauch stellen?“, heißt es da. „Kein Problem! Mit ein bisschen Glück sind Sie für 1,00 Euro in der ‚Wer wird Millionär’-Auswahl.“ Einen Euro kostet jeder Bewerbungsversuch. Je mehr Versuche, verspricht RTL, desto höher die Chancen.

Ein Zufallsgenerator, zwei Auswahlrunden

Ganz so schnell geht’s dann aber doch nicht: Ein Zufallsgenerator wähle täglich aus allen Bewerbern, die sich per SMS, Telefon, Postkarte oder online registrieren haben lassen, eine bestimmte Anzahl von „Kandidatenanwärtern“ aus, teilt RTL-Sprecher Frank Rendez mit.

Es folgten zwei Telefon-Castings, in denen Wissensfragen gestellt würden und „ein paar persönliche Fragen nach Beruf und Hobby“ – „um den Kandidaten etwas näher kennen zu lernen“. Rendez betont: „Am Ende entscheidet, wie viele Fragen der Kandidat in beiden Runden beantworten konnte.“

Wie ein Bewerber das „Wer wird Millionär“-Casting erlebte 

Alexander Mirschel hat das anders erlebt: „Schon beim ersten Telefonat ist mir klar geworden“, sagt er, „dass es nicht um Wissen, sondern um die Show geht.“ Im ersten Fragebogen bei der Online-Bewerbung war nach Besonderheiten gefragt worden. „Ich kann auf zehn verschiedene Arten pfeifen“, hatte der 26-Jährige dort eingetragen. „Die Dame von der Casting-Agentur bat mich, das vorzumachen.“ Er saß gerade im Büro, antwortete: „Geht nicht.“ Die Frau bettelte regelrecht. Ob er nicht wenigstens auf drei Arten…?

Das war der erste Moment, in dem Mirschel das Gefühl hatte, in eine Schublade sortiert werden zu sollen. „Der interessante Dumme“ sei er da gewesen, glaubt er. Denn: Von den fünf Wissensfragen habe er keine einzige richtig beantworten können. „Für mich war klar: Das war’s.“

Endemols Suche nach Macken, Spleens und Ticks

Trotzdem klingelte einige Tage später wieder das Handy: Glückwunsch, er habe es eine Runde weiter geschafft. Was folgte, war ein weiteres Interview, ein etwa einstündiges Video-Telefonat via Skype. Vorab gab es Instruktionen via E-Mail: Man solle schon mal „ein paar lustige, skurrile oder außergewöhnliche Geschichten“ aus dem Leben sowie „Macken, Spleens, Ticks“ bereithalten.

Alexander Mirschel hat sich bei
Alexander Mirschel hat sich bei "Wer wird Millionär" beworben und zwei Auswahlrunden miterlebt. „Schon beim ersten Telefonat ist mir klar geworden“, sagt er, „dass es nicht um Wissen, sondern um die Show geht.“ © privat

Mit einer langen Liste von Beispielen versucht Endemol, den potenziellen „Wer wird Millionär“-Kandidaten auf die Sprünge zu helfen. Die Suche nach Absurditäten wird dabei selbst absurd. Originalvorschläge aus der E-Mail: „Wurden Sie als Kind von einem Vogel auf dem Fahrrad angefallen; stecken immer den Adventskranz in Flammen; der Onkel fällt bei Geburtstagsfeiern grundsätzlich in den Teich.“ Nach Ängsten wird gefragt („z.B. vor Schmetterlingen oder anderem Getier, vor Aufzügen, einem Fön…“) und Dingen, vor denen man sich ekelt („z.B. vor leeren Joghurtbechern…“).

Der Traum vom Millionengewinn

Alexander Mirschel findet die E-Mail befremdlich, zweifelt: Will ich das? „Das Problem ist“, sagt er rückblickend, „wenn man einmal drinsteckt, macht man auch mit.“ Schließlich sei da die Chance, bei „Wer wird Millionär“ dabei zu sein, der vage Traum vom Millionengewinn.

In der zweiten Runde läuft es für den 26-Jährigen besser mit den Wissensfragen, er glaubt, alles richtig beantwortet zu haben. Die Casting-Frau nennt eine Deadline. Wenn sie sich bis dahin nicht gemeldet habe, habe es leider nicht gereicht. Sie rief nicht mehr an.

Kritik an Intransparenz bei „Wer wird Millionär“-Verfahren

Ist der ausführliche Blog-Eintrag, der Bericht über das Bohren nach Skurrilitäten nur gekränkte Eitelkeit, weil es nicht geklappt hat mit „Wer wird Millionär“? Nein, sagt Alexander Mirschel. Im Nachhinein denke er, es ist besser so.

Er gehe mit der Geschichte an die Öffentlichkeit, weil er sauer sei über die „Intransparenz“ des Verfahrens. „Es wäre ja okay, wenn die sagen: Wir suchen skurrile Typen“, sagt Mirschel. „Aber dann sollte man aufhören zu propagieren, dass ein Computer die Kandidaten auswählt und es nur um Wissen geht.“