Grölitz. Südländisches Flair an der deutsch-polnischen Grenze - die Laubenhäuser am Görlitzer Untermarkt in Sachsen erinnern an Italien. Hinter den kunstvollen Fassaden verbirgt sich alles andere als architektonischer Standard. Nun will die Stadt versuchen, die Denkmäler auf die Welterbeliste der Unesco zu bringen.
Wer ein Hallenhaus im sächsischen Görlitz betritt, gerät ins Staunen: eine turmartige, lichte Zentralhalle öffnet sich, der Blick schweift weit hinauf zu prächtigen Gewölbedecken. Verwinkelte Treppen führen nach oben. Die Bauten aus der Zeit der Spätgotik und Frührenaissance gleichen Palästen, in denen Patrizier, Großkaufleute und Händler eine faszinierende Lebens- und Geschäftskultur schufen. Etwa 35 Hallenhäuser sind in der deutsch-polnischen Grenzstadt bis heute erhalten, wie der Chef der dortigen Denkmalschutzbehörde, Peter Mitsching, sagt.
Mit den einzigartigen Denkmalen will es Görlitz auf die Welterbeliste der Unesco schaffen. Altstadtkerne seien darauf längst überrepräsentiert, heißt es aus Sachsens Innenministerium. Eine Expertenkommission empfahl deshalb die Konzentration auf die Hallenhäuser mit ihrem "außergewöhnlich universellen Wert". Tatsächlich waren die zwischen 1480 und 1560 entstandenen Bauten vieles in einem: Wohnhaus, Kontor, Lager, Brauhof. "Manche hatten sogar eine Kapelle", sagt der Historiker Lars-Arne Dannenberg, der an der Görlitzer Bewerbung mitarbeitete. Tief in den Fels gehauene Keller reichten bis zu drei Etagen unter die Erde.
Von außen ist die ungeheure Tiefe nicht sichtbar
Der Architekt Frank-Ernest Nitzsche sieht in den bürgerlichen Wohnanlagen etwas Monumentales. "Die Häuser entfalten sich nicht in ihrer äußeren Wirkung, sondern erst im Innenraum", sagt der Bauforscher, der sich seit mehr als 30 Jahren mit diesem architektonischen Phänomen beschäftigt. Von außen ist die ungeheure Tiefe nicht sichtbar. Das Haus etwa, das sich der Kaufmann Hans Frenzel am Untermarkt errichten ließ, reicht 38 Meter ins Grundstück hinein.
Nitzsche schwärmt von der riesigen Formenvielfalt. Es gebe große, kleine, schmale, tiefe Hallen, mit engen, hohen Treppenhäusern und breiten Durchfahrten. "Jedes dieser Häuser ist ein individueller Fall". Die früheren Eigentümer orientierten sich an herrschaftlicher Architektur. Damit vertraute Baumeister wie Conrad Pflüger, der an der Meißner Albrechtsburg mitwirkte, kamen nach Görlitz. Neue Techniken hielten Einzug, etwa zur Konstruktion von Netz- und Schlingrippengewölben.
Tuchhandel in den Zentralhallen
"Die Häuser waren Handelsplätze", sagt Nitzsche. Sie standen auf privilegierten Grundstücken, oft am Markt und waren fast immer mit dem Tuchhandel verbunden. Die Zentralhallen mit ihrer lichten Höhe boten Raum, um Waren wirkungsvoll zu präsentieren, etwa indem Tuche über die Geländer hinabgerollt wurden. "Görlitz hat vorrangig von Transithandel und Tuchexport gelebt." Durch die Lage an der Handelsstraße Via Regia, die Ost- und Westeuropa verband, profitierte die Stadt vom europäischen Wissen- und Kulturtransfer. Die Idee der Hallenhäuser könnten Durchreisende als Anregung mitgenommen haben. Bis nach Italien reicht die Verbreitung von Bauten mit dieser Grundkonstruktion.
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"In Görlitz hat sich der Haustyp allerdings außergewöhnlich früh entwickelt", sagt Nitzsche. Erst in der zweiten Hälfte des 16. und im 17. Jahrhundert seien ähnliche Kaufmannshäuser in wichtigen Handelszentren Europas entstanden. Eine Recherchetour durch insgesamt 18 Städte habe dies bestätigt, sagt Nitzsche. Auf der Reise im Herbst 2013 habe er rund 160 Gebäude in Polen, Tschechien und Süddeutschland besichtigt. Gut erhaltene und mit dem Görlitzer Haustyp vergleichbare Bauten fand der Bauforscher demnach im polnischen Greifenberg. In tschechischen Iglau sei er auf prächtige überdachte Arkadenhöfe gestoßen.
Die meisten der Görlitzer Hallenhäuser dienen nach wie vor zum Wohnen. Manche stehen für Besucher offen, etwa als Gaststätte, als Museum wie der Schönhof oder als Verwaltungssitz wie das Biblische Haus. In einigen sind Ferienwohnungen oder Gästezimmer eingerichtet. "Das ist eine Herausforderung", räumt Martin Vits ein, der die Geschäfte eines Hotels unweit der Peterskirche führt. Viele Verkehrsflächen wie die hohe Halle, breite Treppenaufgänge und Flure ließen sich wirtschaftlich nicht nutzen. Gäste allerdings wählten das Haus wegen der besonderen Atmosphäre oft sehr gezielt aus. Es lockt wohl auch der Reiz, in einem solchen Denkmal zu übernachten. (dpa)