Essen. . Der große Schriftsteller Michael Ende schrieb vor 40 Jahren seinen Märchenroman “Momo“ über die verlorene Lebenszeit. Wenn ein Klassiker Geburtstag feiert, behaupten Fans und Verlage gerne: Das Buch ist heute so aktuell wie damals. Was würde Momo wohl denken, wenn sie heute unter uns lebte? Wir prüfen die Gegenwart anhand von Ausschnitten aus dem Roman.

Wenn ein Klassiker Geburtstag feiert, behaupten Fans und Verlage gerne: Das Buch ist heute so aktuell wie damals. Doch wer jetzt noch einmal in „Momo“ hineinliest, wird staunen, wie weitsichtig Michael Ende war – oder wie wenig sich trotz des Fortschritts in 40 Jahren verändert hat. Schauen wir einmal genauer hin: Auf Momo, die die „grauen Herren“ besiegt und den Menschen ihre verlorene Zeit zurückbringt. Und aufs Heute.

Momo: „Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: zuhören. Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme.“

Heute: Für 80 Prozent der Menschen gehört „Zuhören“ zu einem guten Gespräch. Nur „Vertrauen“ ist nach einer Allensbach-Studie noch etwas wichtiger (81 Prozent). Bei einer Befragung einer Online-Partnervermittlung nannte jede vierte Frau und jeder fünfte Mann als Trennungsgrund: mangelnde Kommunikation.

Momo: „Niemand schien zu merken, dass er, indem er Zeit sparte, in Wirklichkeit etwas ganz anderes sparte. Keiner wollte wahrhaben, dass sein Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und immer kälter wurde. Deutlich zu fühlen jedoch bekamen es die Kinder, denn auch für sie hatte nun niemand mehr Zeit. Aber Zeit ist Leben.“

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Heute: Weniger als die Hälfte aller Kinder sind laut dem Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest „voll und ganz zufrieden“ mit der Zeit, die ihnen zusammen mit ihren Eltern zur Verfügung steht. Bei den befragten Müttern und Vätern der 3- bis 19-Jährigen ist es sogar nur jeder vierte. Laut Stiftung für Zukunftsfragen haben die Bundesbürger heute 3 Stunden und 49 Minuten Freizeit pro Werktag, 14 Minuten weniger als 2010.

Momo vermisst ihren Freund Nicola. Der Maurer erklärt, warum er keine Zeit mehr hat: „Die Zeiten ändern sich. Da drüben, wo ich jetzt bin, da wird ein anderes Tempo vorgelegt . . . Alles Pfusch . . . Da dreht sich einem der Magen um! Aber was geht mich das alles an? Ich kriege eben mein Geld und basta. Na ja, die Zeiten ändern sich.“

Heute singt Tim Bendzko: „Ich wär so gern dabei gewesen, doch ich hab viel zu viel zu tun. Lass uns später weiter reden, da draußen brauchen sie mich jetzt, die Situation wird unterschätzt. . . Muss nur noch kurz die Welt retten, danach flieg ich zu dir. Noch 148 Mails checken, wer weiß, was mir dann noch passiert, denn es passiert so viel. . . “ 79 Prozent der Menschen sind heute nicht bereit, für mehr Freizeit auf Geld zu verzichten.

Momos Freund schluckt Pillen - immer mehr Jugendliche auch

Momo sieht endlich ihren Freund Gigi wieder, den Geschichtenerzähler, der nun Karriere macht und Pillen gegen seine Kopfschmerzen nimmt: „Ich bin mit den Nerven fertig . . . Ich kann nicht mehr zurück, selbst wenn ich wollte . . . Für mich gibt’s nichts mehr zu träumen . . . Ich habe alles so satt.“ Momo wusste nicht, wie sie ihm hätte helfen können, wo er es doch selbst gar nicht wollte.

Heute schlucken immer mehr Menschen leistungssteigernde Medikamente wie Psychopharmaka oder Amphetamine, um die Anforderungen im Job zu erfüllen. Bei den unter 30-jährigen Arbeitnehmern ist es mindestens jeder zwölfte, so eine aktuelle AOK-Studie. Eine Umfrage des Bitkom ergab im letzten Dezember, dass drei Viertel aller Arbeitnehmer, die an Weihnachten Urlaub hatten, dienstliche Mails und Anrufe beantworten wollten. Und die Stiftung für Zukunftsfragen nennt als einen Grund, warum heute Jugendliche weniger Erholungszeiten haben, den Druck, ständig online sein zu müssen. 81 Prozent von ihnen sind mindestens einmal in der Woche im Internet.

Computer, Smartphone, Tablet – Technik, die Zeit einsparen soll, frisst auch wieder Zeit. Michael Ende beschreibt eine Erfindung, die keine Zeit raubt: Eine Uhr für Sternstunden, die Augenblicke anzeigt, in der etwas Besonderes geschehen kann. Momo meint, dass den Menschen solch eine Uhr fehlt. Doch Meister Hora schüttelt lächelnd seinen weisen Kopf: „Die Uhr allein würde niemand nützen. Man muss sie auch lesen können.“